Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
von Grandprés Schallplatten stieß Bilodo sogleich auf die von Madame Brochu erwähnten Aufnahmen mit chinesischer Musik – bei der es sich eigentlich um traditionellejapanische Musik handelte. Er wählte auf gut Glück eine Platte aus und legte sie auf. Aus den Lautsprechern erklangen melancholische Flötentöne und auf einer Art Laute gezupfte Akkorde, die den Raum mit einer lieblichen monotonen Melodie erfüllten. Bilodo griff, plötzlich inspiriert, zur Feder …
Er schrieb, legte eine Platte nach der anderen auf und trank eine Tasse Tee nach der anderen, während die Stunden schattenhaft an ihm vorüberzogen. Das
koto
perlte seine Arpeggios, bald von einer schrillen
samisen
, bald von einer
sho
begleitet, die den luftigen Klang der
hichiriki
oder den verzaubernden nasalen Gesang einer Frau hervorhoben, und Bilodo schrieb wie in Trance, wobei er mit seinem ganzen Sein nach dem
wabi
(schmucklose Schönheit im Einklang mit der Natur) trachtete und sich von den uralten Tugenden des
sabi
(Schlichtheit, innerer Frieden, Zurückgezogenheit) durchdringen ließ. Während er sich vorstellte, wie er in der herbstlichen Glut des Mont Royal spazieren ging, versuchte er, die ansteckende Mattigkeit der schamlosen Bäume, das Rascheln der vom Wind aufgewirbelten Blätter, den Gesang der gen Süden aufbrechenden Vögel und das letzte Knabbern der Insekten wiederzugeben. Schreibend suchte er nach dem Einverständnis der Worte, bemühte sich, sie im Flug zu erhaschen, bevor sie auseinanderstoben, sie wie Schmetterlingeim Netz der Seite einzufangen und mit einer Nadel auf dem Papier zu fixieren. Wenn ihm hin und wieder ein ganz annehmbarer Vers gelang, verwarf er ihn fünf Minuten später als nichtssagend und überließ ihn dem Papierkorb, um sogleich von Neuem zu beginnen, wobei er durch einen Teich aus zerknüllter Zellulose watete und nur stehen blieb, um gelegentlich in den Sand des kleinen Zen-Gartens eine Hieroglyphe zu zeichnen oder das eine oder andere Haiku von Grandpré oder Ségolène erneut zu lesen, das er laut rezitierte, um dessen mitreißende Spontaneität umso mehr bewundern zu können.
Er ließ sich aus dem »Délicieux Orient« Sushis bringen, die er nur dann aß, wenn Bill ihm gerade nicht zusah, und verbrachte die ganze Nacht damit, die schneeweißen Seiten vollzukritzeln, womit er den ganzen Sonntag, nunmehr Sake trinkend, und auch den ganzen Abend fortfuhr, bis ihm schwindelig, ja, schwarz vor Augen wurde und ihm die Feder aus der Hand fiel. Er kauerte sich auf dem Futon zusammen und überließ sich im Schlaf lauter lebendigen Ideogrammen, träumte, Ségolène habe ihre Bluse geöffnet und aus ihrer Brust ein wenig Milch gepresst, die sie sodann zwischen seine Lippen träufelte …
Als am Montagmorgen beim Erwachen seine Neuronen verrückt spielten, schluckte Bilodo vier Aspirin, duschte ausgiebig, traf unter den wenigen Blättern, die er für würdig befand, der Vernichtung zu entgehen, eine Auswahl und entschied sich schließlich für ein im Morgengrauen verfasstes Gedicht:
Die Sonne versinkt
gähnt auf dem Balkon
und schnarcht an meinem Fenster
Der Dreizeiler schien ein gewisses poetisches Aroma zu verströmen und sich von dem, was Grandpré hätte schreiben können, nicht gänzlich zu unterscheiden. Das war es beinahe. Aber nur beinahe, es war noch immer zu wenig, weshalb er das Blatt ganz methodisch in unzählige Schnipsel zerriss, die er wie Schneeflocken um sich herumwirbeln ließ. Zum zweiten Mal in zwei Wochen rief er im Postamt an, um Bescheid zu sagen, dass er nicht zur Arbeit komme, setzte heißes Wasser für den Tee auf und machte sich erneut an die Arbeit, wild entschlossen, wenn nötig einen ganzen Wald zu opfern.
Es war beinahe Mittag, als ihn das Zuklappen des Briefschlitzes aufschrecken ließ. Bilodo stellte nicht ohne ein Aufflackern von Eifersucht fest, dass man offenbar ohne große Mühe einen Ersatz für ihn gefunden hatte, und ging in den Flur, um Grandprés Post aufzulesen. Sie bestand aus zwei Rundschreiben, einer Rechnung und einem Brief von Ségolène.
Bilodo brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte nicht gedacht,dass Ségolène schreiben würde, bevor Grandpré auf ihr Haiku über das Seehundbaby geantwortet hätte. Mit dem Brieföffner in der zitternden Hand schlitzte er den Umschlag auf. Er enthielt wie immer nur ein einziges Blatt:
Hab’ ich Sie gekränkt?
Lassen wir den Herbst
Sind Sie mir noch
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