Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
aufgereiht. Als er aufs Geratewohl den Roman eines gewissen Mishima aufschlug, stieß erauf eine Passage, in der eine junge Frau aus ihrer Brust ein wenig Muttermilch presste und in den Tee ihres Liebhabers träufelte. Unter dem Eindruck dieser seltsamen Geste legte er das Buch beiseite; er beschloss, seine literarische Bildung zu einem späteren Zeitpunkt zu vervollkommnen, und machte sich an die Sichtung von Grandprés Unterlagen, die er in der Nacht des Einbruchs nicht hatte mitnehmen können.
So fand er einen Brief von Ségolène, einen herkömmlichen Brief, ganz in Prosa verfasst, von vor drei Jahren. In diesem ersten Schreiben an Grandpré stellte sich die Guadelouperin als Liebhaberin japanischer Poesie vor und äußerte sich lobend zu einem Artikel über die Kunst des Haiku nach Kobayashi Issa, den Grandpré in einer literaturwissenschaftlichen Fachzeitschrift veröffentlicht hatte. Es folgten weitere Briefe, die nicht nur von der Geschwindigkeit zeugten, in der sich zwischen beiden ein intellektuelles Einverständnis entwickelt hatte, sondern auch von der Geburt des
Renku
-Projekts, einer Idee Grandprés. So hatten sie sich also kennengelernt. Ein gemeinsames Interesse für japanische Literatur hatte bewirkt, dass sich ihre Wege kreuzten, sie miteinander in Verbindung traten. Somit war wenigstens ein Geheimnis gelüftet.
Beflügelt durch diesen ersten Vorstoß, entschied sich Bilodo, einen erneuten poetischen Versuch zu wagen. Da Freitag war und ein ganzes Wochenende vor ihm lag, verriegelte er die Tür, schloss die Jalousien und beschwordie alten Meister, bat ehrerbietig um ihre Gunst und versenkte sich in sich selbst, wie um nach Perlen zu tauchen.
Weil Bilodo fand, dass es seinen früheren Haikus an
fueki
– dem Ewigkeitsprinzip – mangelte, schrieb er die ganze Nacht hindurch und beendete bei Tagesanbruch ein Gedicht, das eine Huldigung an die triumphierende Morgendämmerung sein sollte:
Die Sonne geht auf
steht am Horizont
wie ein goldener Ballon
Bilodo fand es gar nicht so schlecht. Das
fueki
kam jedenfalls ausreichend darin vor, doch war der
ryuko
-Gehalt – das vergängliche oder triviale Element – nicht eher ungenügend? Im Hinblick auf jenes subtile Gleichgewicht, das ein gutes Haiku kennzeichnet, machte er sich erneut an die Arbeit und bemühte sich, die beiden gegensätzlichen Prinzipien wohl zu dosieren:
Die Sonne geht auf
ich lege Käse
in Scheiben auf meine Toasts
Die Sonne geht auf
wie ein goldener Nabel
auf dem hohlen Bauch
Die Sonne geht auf
wie ein goldener Käse
lasst uns was essen
Bilodo stellte fest, dass sein Magen knurrte. Das war ganz normal, denn in seinem Schaffensrausch hatte er seit dem Vortag nichts mehr zu sich genommen. War das eine Erklärung dafür? War die Poesie im Grunde nur eine Angelegenheit des Magens? Bilodo ließ die Frage offen und ging zum Essen ins »Délicieux Orient«, ein japanisches Restaurant in seinem Viertel.
Am späten Nachmittag kam Madame Brochu zu Besuch und brachte ihm einen Fruchtkorb als Willkommensgeschenk. Sie überzeugte sich davon, dass er sich inzwischenhäuslich eingerichtet hatte, und vergewisserte sich, ob er auch nichts brauche. Bilodo wollte sich die Gelegenheit, etwas mehr über Grandpré zu erfahren, nicht entgehen lassen und lud sie zum Tee ein, den er auf dem hübschen kleinen blattförmigen Tisch servierte. Nachdem die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht worden waren, kam er auf den früheren Mieter zu sprechen. Die schrecklichen Umstände seines Todes wurden erwähnt, kommentiert, bedauert. Bilodo erfuhr, Grandpré sei Professor für Literatur gewesen, jedoch, obwohl noch ziemlich jung, im Jahr zuvor pensioniert worden. Wegen seines ausgeprägten Interesses vertraute Madame Brochu Bilodo an, der arme Mann habe sich in den Monaten vor seinem Tod seltsam verhalten, kaum das Haus verlassen und immer wieder dieselben Schallplatten mit chinesischer Musik aufgelegt. Eine Art Depression, befand sie, wobei sie dieses unheilvolle Wort kaum zu flüstern wagte.
Nachdem Madame Brochu gegangen war, dachte Bilodo nach, während er die Teekanne leerte. Grandprés Persönlichkeit blieb in so mancher Hinsicht unklar und seine verschlungenen Gedankengänge waren nach wie vor kaum nachvollziehbar, doch fing er an, Licht zu sehen. Die Äußerungen seiner Vermieterin hatten einen neuen Aspekt hervortreten lassen: die Musik. Würde das zum Verständnis seiner Person beitragen? Bei der Durchsicht
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