Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Drittel des Dreizeilers.
Bilodo warf einen kritischen Blick auf die Wörter und strich sie dann alle durch.
Vier Wörter, von denen ihn nicht eines zufriedenstellte. Bei diesem Tempo käme er nie ans Ziel.
Er musste sich wirklich beeilen. Wie wurde man Dichter? Ließ sich das erlernen? Gab es so etwas wie einen Haiku-10 1-Kurs ? In den Gelben Seiten war keine einzige Poesieschule verzeichnet. An wen wandte man sich in dringenden Fällen? An die japanische Botschaft? Eines stand zumindest fest: Bilodo musste noch weitere Informationen über diese verflixten Haikus einholen.
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Bei seiner Suche in der Abteilung »Japanische Literatur« entdeckte Bilodo in der Zentralbibliothek einige äußerst informative Titel und eignete sich binnen Kurzem alles an, was er über Haikus erfahren wollte, aber nicht zu fragen gewagt hatte. Das Prinzip war im Grunde einfach: Es ging beim Haiku um die Gegenüberstellung des Unveränderlichen und des Vergänglichen. Ein gutes Haiku enthielt im Idealfall eine Anspielung auf die Natur (
kigo
) oder irgendeine andere, nicht ausschließlich menschliche Realität. In seiner Sparsamkeit und Präzision, Komplexität und zugleich Subtilität vermied es jeglichen literarischen Kunstgriff sowie die üblichen Merkmale der Dichtkunst, wie etwa den Reim oder die Metapher. Die Kunst des Haiku war die der Momentaufnahme, des Details. Ob ein Ausschnitt aus dem Leben, ob eine Erinnerung oder ein Traum, vor allem war es ein konkretes Gedicht, das nicht etwa an die Vorstellung, sondern an die Sinne appellierte.Bilodo begann Land zu sehen. Selbst der Haiku-Briefwechsel zwischen Ségolène und Grandpré bekam auf einmal eine eigene Bedeutung: Es handelte sich um ein
Renku
oder Kettengedicht, eine Tradition, die auf die literarischen Wettstreite am kaiserlichen Hof des japanischen Mittelalters zurückging.
In seiner Begeisterung und weil er das dringende Bedürfnis hatte, sich mitzuteilen, erzählte Bilodo seinem Freund Robert von seinen Entdeckungen und las ihm ein paar Haikus von Bashō, Buson und Issa, den klassischen Meistern dieser Gedichtform, vor, doch für das subtile Gleichgewicht zwischen
fueki
– dem Unveränderlichen, der Ewigkeit, die über uns hinausgeht – und
ryuko
– dem Sich-Stets-Verändernden, Flüchtigen, das durch uns hindurchgeht – schien Letzterer nicht das geringste Verständnis zu haben und darin lediglich eine hochgestochene Form von mentaler Masturbation zu sehen. Er hatte der japanischen Literatur gegenüber nicht etwa Vorbehalte, ganz im Gegenteil: Robert verkündete, er liebe Mangas, jene populären Comics, vor allem aber
Hentais
, deren erotische Variante, die er Bilodo wärmstens ans Herz legte, indem er gleichsam als Beleg im Handumdrehen ein Exemplar zückte.
Auf der Suche nach einem Gesprächspartner, der eher dazu angetan war, seine intellektuelle Begeisterung mit ihm zu teilen, wandte sich Bilodo an Tania. Die junge Kellnerin zeigte sich zunächst nur mäßig interessiert, da es im »Madelinot« hoch herging, doch das erhoffte Funkelnwar in ihren Augen zu erkennen, als Bilodo vor ihr ein Buch mit dem Titel ›Traditionelle Haikus des 17. Jahrhunderts‹ aufschlug, einen kostbaren Band, den er in der Bibliothek ausgeliehen hatte und in dem man in alter japanischer Schrift geschriebene Haikus bewundern konnte. Tania stimmte ihm zu, dass alles sehr schön und sehr geheimnisvoll, sehr mystisch sei. Bilodo gab ihr vollkommen recht: Mit ihrer Verbindung von Ideogrammen und phonetischem Syllabarium würde die japanische Schrift die extreme Dichte des Haiku noch verstärken und sei beinahe imstande, das Unaussprechliche auszudrücken.
Schöner goldner Fisch
Blasen steigen auf
während er durchs Wasser schwimmt
War das poetisch? Bilodo dachte zunächst, er hätte ins Schwarze getroffen – gab es etwas Japanischeres als einen Goldfisch? –, war sich aber auf einmal nicht mehr so sicher. Er hatte allerdings das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, denn neben der »Leichtigkeit, Aufrichtigkeit und Objektivität« gehörte die »Liebe zu allen Kreaturen« zu den höchsten Attributen des Haiku. Doch ließ nicht die Thematik selbst zu wünschen übrig? Bei allem Respekt für Bill: War der Fisch am ehesten dazu angetan,Poesie auszudrücken? Bei der Suche nach einem geeigneteren kleinen Tier fiel Bilodo der Vogel ein, der immerhin den Vorzug hatte, »Leichtigkeit« zu verkörpern.
Piep macht der Vogel
auf der Antenne
vor einem blauen
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