Siegfried
Die Erfindung der Liebe , das auch in Österreich zahllose begeisterte Leser gefunden hat. Die Geschichte ist eine moderne Version der mittelalterlichen Legende von Tristan und Isolde – ein ergreifender Roman von fast tausend Seiten, doch vielen ist auch das noch zuwenig. Können Sie unseren Zuschauern mit wenigen Worten eine Vorstellung von Ihrem Buch vermitteln?«
»Nein, das kann ich nicht, und ich werde Ihnen sagen, warum.«
Er war natürlich ein Routinier, diese Frage war ihm bereits dutzendemal gestellt worden, und er wußte genau, was er antworten würde. Daß man zum Beispiel beschließen könne, ein Theaterstück über einen jungen Mann zu schreiben, dessen Vater von seinem Onkel ermordet wurde, der dann anschließend seine Mutter heiratet, woraufhin der junge Mann den Entschluß faßt, seinen Vater zu rächen, was er aber nicht tat. Daraus könne ein Rührstück werden, das niemand sehen wolle, doch wenn man Shakespeare heiße, dann sei Hamlet das Resultat. Daß es in der Kunst immer um das Wie und nicht um das Was gehe. Daß in der Kunst die Form der eigentliche Inhalt sei. Daß sein eigenes Buch in der Tat eine Variation des Tristanund-Isolde-Stoffs sei, daß das Ergebnis aber auch ein kitschiger Groschenroman hätte sein können. »Was es aber nicht ist«, sagte Sabine, »im Gegenteil. Es ist die mitreißende Geschichte zweier Menschen, die nicht füreinander bestimmt sind, die sich aber aufgrund eines fatalen Mißverständnisses – das ich hier nicht verraten werde – leidenschaftlich ineinander verlieben. Sie begehen Ehebruch, sie entzweien sich, finden aber dennoch wieder zueinander, bis sie schließlich aufgrund erneuter Lügen und erneuten Betrugs ihren ergreifenden Liebestod sterben.«
»Da schau her«, sagte Herter mit einem Lächeln, »nun haben Sie den Zuschauern eine Vorstellung von meinem Buch gegeben.« Sein Deutsch war ein wenig altmodisch, wie aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, doch fast akzentfrei.
»Sie haben natürlich recht, damit ist eigentlich noch nichts gesagt. Viel wichtiger ist die phantastische Phantasie, mit der das Buch geschrieben ist. Darf ich das so sagen?«
»Sie dürfen alles sagen. Phantastische Phantasie … Ehrlich gesagt tue ich mich mit dem Begriff ›Phantasie‹ immer ein wenig schwer. Er hat so etwas Aktives, als könne man sie mit einem Wasserskifahrer hinter einem knatternden Motorboot vergleichen, während man sich eher einen Surfer vorstellen muß, der passiv und ruhig auf der Brandung reitet und sich von den Wogen führen läßt.«
»Wie soll ich es denn nennen? Vorstellungskraft?« »Bleiben wir ruhig bei Phantasie.«
»Darüber möchte ich mich gerne weiter mit Ihnen unterhalten. Hat die schöpferische Phantasie den Charakter von Träumen?«
»Auch das, aber nicht nur. Sie hat auch den Charakter von Erkenntnis. Es scheint, als träte ich damit in die Fußstapfen Ihres verehrungswürdigen Landsmanns Sigmund Freud, aber das stimmt nicht. Für ihn sind Träume, Tagträume, Mythen, Romane und alles, was damit verwandt ist, Objekte, auf die die Erkenntnis sich richtet. Ich aber meine, daß sie selbst die Erkenntnis sind.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Auch mir fällt es schwer, das zu verstehen, aber ich gebe mir Mühe. Ich will damit sagen, daß eine wie auch immer geartete künstlerische Phantasie weniger etwas ist, das verstanden werden muß, als vielmehr etwas, womit man versteht. Sie ist ein Werkzeug. Ich will versuchen, das Ganze von der anderen Seite zu betrachten. Etwas von der anderen Seite zu betrachten ist immer fruchtbar. Ich will Ihnen ein Beispiel geben …« »Gern.«
Herter nickte kurz mit halbgeschlossenen Augen und sagte:
»Stellen Sie sich eine realistisch gemalte Theaterkulisse vor, wie es sie heute hin und wieder noch in der Oper gibt. Im Hintergrund sieht man zum Beispiel das Meer, ein Fischerdorf, die Dünen. Davor hat man auf der Bühne allerlei reale Dinge aufgebaut, Sand, trocknende Fischernetze, rostige Eimer. Und was stellt man fest? Daß das Gemalte aussieht wie die Wirklichkeit, daß aber die wirklichen Dinge im Kunstlicht und in der unbewegten Luft des Theaters etwas Unwirkliches, Artifizielles bekommen haben. Verstehen Sie, was ich meine?« »Um ehrlich zu sein …«
»Gut. Lassen Sie es mich anders versuchen.« Herter überlegte kurz, während ihn das Gefühl überkam, einer Sache auf der Spur zu sein. »Nehmen wir jemanden, den es wirklich gibt, den ich aber nicht ganz verstehe oder
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