Siegfried
sein darf – mehr als nur eine Geschichte geschrieben.«
»Arbeiten Sie zur Zeit wieder an einer neuen Geschichte?«
»Immer.«
»Wie weit sind Sie?«
»Schätzungsweise zehn Prozent habe ich. Man weiß das vorher nie so genau, und das ist auch gut so. Wenn ich gewußt hätte, daß Die Erfindung der Liebe fast tausend Seiten lang werden würde, hätte ich nie damit angefangen.«
»Könnten Sie uns schon etwas über die neue Geschichte verraten?«
»Ja, aber ich mache es nicht.«
»Herr Herter, ich wünsche Ihnen für morgen abend viel Erfolg und danke Ihnen, daß Sie uns erlaubt haben, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.«
»Im Gegenteil, ich danke Ihnen . Sie haben mich auf eine Idee gebracht.«
3
»Was bist du so still heute abend«, sagte Maria, als sie nach dem Abendessen, dem Kaffee und der Sachertorte im Lift standen. »Hast du was?« »Ja, ich hab was.«
Er guckte sie düster an und sah, sie verstand, daß es etwas mit seinem Werk zu tun hatte, worauf sie keine weiteren Fragen stellte. Sie hatten beide jeweils eine Flasche Wein getrunken, also eigentlich zuviel, doch in Wien zuviel Wein trinken ist etwas anderes, als in Amsterdam zuviel Wein trinken. Pausenlos war er in seinem literarischen Laboratorium jetzt auf der Suche nach einem fiktiven Versuch, den er um Hitler herum aufbauen konnte, um so zu seiner inneren Struktur vorzudringen, und es beunruhigte ihn, daß er nicht sofort wußte, wie er es anstellen sollte. Er zog seinen Druckbleistift aus der Tasche und legte die Willkommenskarte auf den Schoß. Unter das in das dicke Papier gestanzte Wappen des Hotels, ein S mit einem Lorbeerkranz und einer Krone, schrieb er mit Blockbuchstaben:
ADOLF HITLER
Grübelnd starrte er auf die zwei Worte, doch ohne sie zu lesen – er betrachtete die elf Buchstaben wie eine Zeichnung, wie eine Ikone. Nach einer Minute schrieb er darunter:
HALL FREITOD
Er sah auf die Uhr, schaltete im Salon das Fernsehen ein und suchte den richtigen Sender. »In fünf Minuten werde ich dir im Fernsehen erzählen, was los ist.«
Nebeneinander auf der Couch sitzend, sahen sie sich das Ende einer Reportage über eine DürerAusstellung an: Aquarelle von Vogelflügeln in herrlichen Farben. Aufmerksam nahm er alles in sich auf. Immer, wenn er an irgend etwas arbeitete, wurde alles, was er sah oder erlebte, daraufhin geprüft, ob er es verwenden oder einbauen könnte. Ihm fiel der graue Taubenflügel ein, mit dem er früher während des Zeichenunterrichts die Radiergummikrümel vom Papier fegte – hatte Dürer seine Flügel auch dazu benutzt? Flügel, fliegen, wegfliegen, Freiheit, Daedalus, Ikarus … aber abgeschnitten, ausgerissen … Nein, die Verbindung von Dürer zu Hitler hatte bereits Thomas Mann in seinem Doktor Faustus hergestellt, davon mußte er die Finger lassen.
Abspann, Musik: ein Fragment aus einer Klaviersonate von Schubert. Kurze Zeit später erblickte er sich selbst, doch er dort auf dem Schirm sah nicht zu ihm, sondern zu jemandem an seiner Seite, sah auf die Stelle, wo jetzt Maria saß. »Willkommen in Wien, Rudolf Herter aus Amsterdam …«
Er streckte seine Beine aus, legte die Hände mit verschränkten Fingern in den Nacken und lauschte seinen Ausführungen über das Was und das Wie in der Kunst. Er hätte natürlich noch hinzufügen müssen, daß es in der Musik, der höchsten Kunst, nicht einmal ein Was gab, sondern nur ein Wie . Als er sagte, die Phantasie ähnele weniger einem Wasserskiläufer, sondern vielmehr einem Surfer, fiel ihm eine alte Beobachtung ein, die er schon lange einmal hatte anbringen wollen, die er aber immer noch nicht losgeworden war: daß die technische Entwicklung nach dem Krieg die Ruhe am Strand in den pausenlosen Lärm von Motorbooten und Kofferradios verwandelt hatte, daß aber mit der technischen Weiterentwicklung die Vorkriegsruhe wiedergekehrt war. Neue Materialien ermöglichten das Windsurfen, was das Ende des Wasserskilaufens nach sich zog, und der Walkman verdrängte das Radio.
In Tausenden von österreichischen Wohnungen war er nun zu sehen, in all diesen Zimmern erklang seine Stimme, obwohl er jetzt hier schweigend auf der Couch saß. Das war normal, niemand wunderte sich mehr darüber, doch gleichzeitig war es ein unmögliches Wunder. Dieses Erstaunen hatte er aus seiner Kinderzeit herübergerettet; auch wenn er an sich selbst dachte, dachte er nicht an einen Mann von über siebzig Jahren, sondern an ein Kind.
»Nehmen wir einmal an, ich kenne eine Frau,
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