Siegfried
die für mich ein Rätsel ist …«
»Kennen Sie eine solche Frau?«
»Ja.«
»Damit meine ich Olga«, sagte Herter.
»Tatsächlich?« fragte Maria mit einem ironischen Lächeln.
Die Phantasie als Werkzeug des Verstehens. Ohne Sabine wäre er nie auf die Idee gekommen. »Hitler. Hitler natürlich.«
Als das Interview vorbei war, schaltete er den Ton aus.
»Verstehst du, was ich meine?«
»Ja. Aber nur, weil ich dich kenne.«
»Sollen wir noch ein Glas darauf trinken, daß wir uns kennengelernt haben?« Da die Sektflasche nun in nutzlos gewordenem Wasser stand, rief er beim Room Service an und bat um einen Kübel Eis.
»Eine Sache verstehe ich aber nicht«, sagte Maria. »Warum gerade Hitler? Du willst ihn mit einer extremen, fiktiven Situation konfrontieren, doch kannst du dir eine extremere Situation denken als die, die er sich selbst ausgedacht und verwirklicht hat? Nimm lieber eine etwas durchschnittlichere Person, die du nicht verstehst. So jemanden wird es doch wohl geben, oder?«
»Das hätte er wohl gern. Dann wäre es ihm wieder gelungen, sich zu entziehen. Nein, gerade Hitler, gerade der allerextremste Mann der Weltgeschichte.« Herter zündete sich eine Pfeife an und drückte kurz mit dem Zeigefinger auf die Glut. »Aber du hast natürlich recht, genau da liegt das Problem. Das ist es, was mich die ganze Zeit beschäftigt. Bis jetzt ist mir nur eine einzige Szene eingefallen. Wir wissen, daß er nie ein Konzentrationslager, geschweige denn ein Vernichtungslager besucht hat. Dergleichen überließ er Himmler, dem Boss der SS und der Polizei. Wenn ich mir jetzt vorstelle, er hätte eines Tages beschlossen, sich in Auschwitz die alltägliche Vergasung von Tausenden von Männern, Frauen und Kindern anzusehen, die er befohlen hat. Wie hätte er auf den Anblick reagiert? Doch dazu muß ich seinen Charakter verändern, denn genau dies hat er ja nie getan, und dann hätte ich ihn wieder nicht verstanden.« »War er dazu zu feige?«
»Feige … feige … so einfach ist das natürlich nicht.
Im Ersten Weltkrieg wurde er als Meldegänger mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet – sehr ungewöhnlich für einen Gefreiten –, und diesen Orden hat er immer getragen. Der Offizier, der ihm den Orden angesteckt hat, war übrigens Jude. Er war also überdurchschnittlich tapfer, doch soweit ich weiß, hat er dies nie öffentlich gezeigt. Ich nehme an, er wollte, daß durch sein Zutun in großem Maßstab gestorben wurde, nicht nur in seinen Konzentrationslagern, sondern auch an den Fronten, in den besetzten Gebieten und in Deutschland selbst, Tag für Tag Zehntausende, Blut, Blut sollte strömen – aber in seiner Abwesenheit. Er hat auch nie eine bombardierte Stadt besucht, wie es sein sinistrer Paladin Goebbels zumindest noch tat. Wenn Hitlers Zug durch die Ruinen einer Stadt fuhr, mußten die Vorhänge geschlossen werden. Ich denke, er wollte das Auge des Wirbelsturms sein. Rundherum verwüstet der Orkan alles, doch im Auge des Sturms herrscht wunderschönes Wetter, und der Himmel ist blau. Seine Villa in den Alpen, der Berghof, ist das Symbol dafür. Dort brütete er all die schrecklichen Dinge aus, doch nichts davon drang ein in die Idylle.« »Aber warum wollte er, daß um ihn herum in großem Maßstab gestorben wurde?«
»Vielleicht meinte er, damit den eignen Tod beschwören zu können. Solange er tötete, lebte er. Vielleicht war sein eigener Tod das einzige, wovor er sich wirklich fürchtete. Vielleicht meinte er, die unvorstellbar zahlreichen Opfer machten ihn unsterblich. Und in gewisser Weise haben sie das ja auch getan.«
»Bist du damit nicht eigentlich schon an dem Punkt, an den du gelangen willst? Zu dieser Erkenntnis bist du doch mit Hilfe deiner Phantasie gekommen.«
Herter legte seine Pfeife in den Aschenbecher und nickte.
»Da ist was dran. In gewisser Weise. Gut, laß mich nachdenken. Einen Schritt habe ich also bereits gemacht, die Idee ist produktiv. Doch jetzt will ich mir außerdem etwas ausdenken, das nicht im Widerspruch zu seinem Charakter steht, etwas, das tatsächlich passiert sein könnte, das aber nicht passiert ist, soweit wir wissen.« »Das gelingt dir bestimmt.«
»Wenn es überhaupt jemandem gelingt, dann mir«, nickte Herter. Er sah sie an, und gleichzeitig erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Vielleicht bin ich deshalb auf der Welt.« Maria hob die Augenbrauen.
»Soll das vielleicht heißen, daß auch du in seinen Diensten stehst?«
Herters Stimmung
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