Siegfried
die Tür auf. Es war plötzlich viel kälter als in Amsterdam. Im Fond besprach Herter mit dem zweiten Mann sein Programm. Maria, die er als seine Freundin vorgestellt hatte, saß halb nach hinten gewandt neben dem Chauffeur, so daß sie dem Gespräch folgen konnte – nicht nur aus Interesse, sondern auch weil sie wußte, daß er jetzt noch schlechter verstehen konnte, was gesprochen wurde, weil sein Hörgerät auch das Motorgeräusch verstärkte. Hin und wieder sah er sie kurz an, worauf sie Frau Röells Worte mehr oder weniger unauffällig wiederholte. Um ihn zu schonen, hatte man eine strenge Auswahl getroffen. Für heute war nur ein kurzes Fernsehinterview für ein Kulturmagazin geplant, das am späteren Abend ausgestrahlt werden sollte. Doch er hatte ausreichend Zeit, auszupacken und sich zu erholen. Morgen früh würde er drei wichtigen Tages- und Wochenzeitungen Interviews geben, dann mit dem Botschafter zu Mittag essen, und abends fand die Lesung statt. Den Donnerstag hatte er zur freien Verfügung. Frau Röell überreichte ihm die Unterlagen und einige Zeitungen mit Vorankündigungen für sein Werk, die er gleich an Maria weiterreichte. Er hob kurz die Augenbrauen und gab Maria damit zu verstehen, daß sie jetzt das Gespräch übernehmen solle.
Das Zentrum empfing ihn mit der grandiosen, monumentalen Umarmung der Ringstraße. Er kam nicht häufig nach Wien, doch jedesmal war die Stadt ihm vertrauter als jede andere. Seine Familie stammte aus Österreich; offenbar trug der Mensch in seinen Genen auch Städte und Landschaften, die er selbst nie besucht hatte. Es herrschte reger Verkehr, die tief stehende Novembersonne machte die Welt grell und verlieh ihr scharfe Konturen; die letzten Herbstblätter an den Bäumen konnte man an den Fingern abzählen, nach dem nächsten Sturm würden auch sie verschwunden sein. Als sie an einer hellgrünen, mit goldgelben Blättern bedeckten Rasenfläche vorüberfuhren, deutete er zu ihr hinüber und sagte: »So fühle ich mich jetzt auch oft.«
An der majestätischen Oper bog der Wagen nach rechts in die Kärntner Straße und hielt am Hotel Sacher. Frau Röell entschuldigte sich, daß sie am nächsten Tag beim Mittagessen und der Lesung nicht dabeisein könne, doch am Donnerstag abend käme sie wieder, um sie zum Flughafen zu bringen.
In der geschäftigen Halle wurde er an der Rezeption freudig überrascht begrüßt, wie jemand, auf den das luxuriöse Hotel schon seit Jahren gewartet hatte. Herter ließ es sich wohlwollend gefallen, doch weil er für sich selbst nie das geworden war, was er nun schon seit Jahrzehnten für die anderen war, dachte er: Das alles gilt einem achtzehnjährigen Jungen, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, unbekannt und arm wie eine Kirchenmaus, versucht, seine erste Geschichte zu Papier zu bringen. Aber vielleicht, überlegte er amüsiert, während er den beiden Hoteldienern, die die Koffer trugen, durch lange, dunkelrot ausgeschlagene und mit Ölgemälden aus dem neunzehnten Jahrhundert – lauter Porträts in schweren vergoldeten Rahmen – geschmückte Gänge folgte, vielleicht war er in Wirklichkeit weniger bescheiden, vielleicht verhielt es sich genau andersherum: Vielleicht hatte er sich tatsächlich nicht verändert, doch dann in dem Sinne, daß er für sich schon immer derjenige gewesen war, der er jetzt auch für die anderen war, auch damals schon in seinem Mansardenzimmer mit Eisblumen an den Fenstern.
Auf dem Tisch des Wohnzimmers der geräumigen Suite, ein Eckzimmer, das mit seinen kristallenen Kronleuchtern und den romantischen Gemälden aussah wie ein Boudoir der Kaiserin Sissi, standen eine Vase mit Blumen, eine große Schale voll Obst, zwei Teller, Besteck und Servietten sowie eine Flasche Sekt in einem versilberten Kühler. Neben zwei braunen Sachertörtchen lag ein handgeschriebener Willkommensgruß des Hoteldirektors. Nachdem man ihnen die Funktion aller Schalter erklärt hatte, machte Herter sich gleich ans Auspacken, um die Spuren der Reise zu tilgen und die nächste Etappe in Angriff zu nehmen. Auf dem Rand des Bettes sitzend, telefonierte Maria währenddessen mit Olga, seiner Frau, um ihr zu berichten, daß sie wohlbehalten angekommen waren. Sie war die Mutter seiner beiden erwachsenen Töchter und hütete jetzt in Amsterdam Marnix, ihren siebenjährigen Sohn, den sie, Maria, mit Herter hatte. Als sie die Wanne vollaufen ließ und sich auszog, trat Herter ans Eckfenster. Die gegenüberliegende Straßenseite wurde vom
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