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Signum - Die verratenen Adler

Signum - Die verratenen Adler

Titel: Signum - Die verratenen Adler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roemling
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schräg.
    Arthur Cheshire hatte Thomas’ Onkel in einem Herrenklub kennengelernt. Als er erfuhr, dass Thomas in Oxford studiert hatte (als Stipendiat), ließ er ihn sofort kommen und engagierte ihn als Hannahs Hauslehrer.
    Die beiden Männer hatten jedoch sehr gegensätzliche Vorstellungen von ihrer Erziehung. Als Arthur Cheshire Mr Behr einstellte, war Hannah gerade elf Jahre alt, und er fand, dass sie ihrem Kindermädchen entwachsen war. Er ermahnte Thomas, Hannah nicht zu viel beizubringen, denn seine Tochter sollte kein Blaustrumpf werden. »Lehren Sie sie gerade so viel, dass sie auf ihre Bewerber einen vornehmen Eindruck macht«, sagte er.
    Thomas Behr hörte aber nicht auf ihn. Er unterrichtete Hannah in Geschichte und Poesie, in Mathematik und Sternenkunde. Er erzählte ihr von den Tieren in Afrika und von den Menschen im hohen Norden, die ihre Häuser aus Schnee erbauten. Er brachte ihr Französisch, Deutsch und Latein bei. Er las ihr aus den großen Werken der Weltliteratur vor. Und er erzählte ihr Märchen von Glaspantoffeln, vergifteten Äpfeln und weißen Bären.
    Hannah beachtete seine abgenutzten Ärmel nicht. Sie liebte die Art, wie er aufgeregt seine Brille abnahm, wenn er ihr von den Kreuzzügen berichtete oder von Kopernikus, der entdeckt hatte, dass die Erde sich um die Sonne drehte. Dabei ging er im Zimmer auf und ab und fuchtelte beim Reden mit den Armen. Hannah fand, dass er dann wie ein wildes Tier aussah, das in einem Anzuggefangen ist. Seine grauen Augen begannen zu leuchten und Hannah dachte, dass dies die Farbe des Meeres sein müsste – ein funkelndes, gesprenkeltes Grau.
    Hannah schreckte auf, denn jemand packte sie und zerrte sie von der Pritsche. Benommen sah sie sich um. Es war immer noch dunkel, lange konnte sie nicht geschlafen haben. Der Angreifer zog sie vorn am Kleid. Ein pockennarbiges Gesicht schob sich ihr entgegen.
    Â»Das ist mein Bett«, zischte die Gestalt aus einem Mund voller Zahnlücken und mit Lippen, die von roten und weißen Pusteln übersät waren. Die Person – Hannah konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte – spuckte sie an. Ihr stinkender Atem brachte Hannah wieder zum Würgen.
    Â»Du dreckige Schlampe, du. Du musst zahlen, wenn du hier pennen willst. Also, her mit den Moneten, sonst bleibst du unten bei den anderen Drecksäcken.«
    Hannah starrte ihr Gegenüber verständnislos an. Die Gestalt gab ihr einen groben Stoß, der sie der Länge nach auf den Boden beförderte, wo sie mit mehreren Schlafenden zusammenstieß, die grunzend protestierten. Hannah kroch zu einem freien Plätzchen unter dem Fenster. Ein Windstoß wehte einen Schneeschauer auf sie herab, aber er brachte wenigstens auch frische Luft mit.
    Der harte Steinboden war feucht von Urin und Erbrochenem. Hannahs Hüften und Schultern schmerzten. Sie stützte den Kopf auf die Arme und dachte an jenen Tag, an dem sich alles in ihrem Leben geändert hatte. Der Tag hatte so gut begonnen.
    Sie und Mr Behr waren im Hyde Park. Wenn sie lachten, kamen kleine weiße Atemwölkchen aus ihren Mündern. Mr Behr baute Schneetiere und Hannah musste sie erraten. Schafe, Elefanten und Löwen stolzierten über die weiß bedeckten Wiesen. Dann formte er ein Tier, das Hannah noch nie zuvor gesehen hatte.
    Â»Ist es ein Kaninchen?«
    Â»Nein«, sagte Mr Behr, »viel größer als ein Kaninchen.«
    Â»Vielleicht ein Hase?«
    Mr Behr lachte und Hannah spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange.
    Â»Es ist ein Känguru.«
    Â»Ein was?«
    Â»Ein Känguru. Aus New South Wales.«
    Und dann erzählte er ihr von diesen seltsamen Tieren, die bis zu zwei Meter groß wurden und ihre Jungen in einem Beutel mit sich trugen.
    Â»So ein komisches Tier möchte ich auch gern mal sehen«, sagte Hannah.
    Mr Behr erwiderte lächelnd: »Zu Hause kann ich dir ein Bild zeigen. Ich habe ein Buch mitgebracht.«
    Mr Behr hatte immer einen Stapel Bücher unter dem Arm, wenn er kam. Hannahs Vater war auf Bücher nicht gut zu sprechen. Deshalb versteckte Hannah sie in ihrem Schlafzimmer und las sie abends bei Kerzenlicht.
    Â»Aber zuerst will ich auch noch ein Tier machen«, sagte Hannah. Sie streifte den Pelzmuff ab, in dem sie ihre Hände gewärmt hatte, und kniete sich in den Schnee. Sie kräuselte konzentriert die Stirn. Es sollte eine Giraffe werden,

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