Silberband 062 - Götzendämmerung
Morgens den Steinhaufen vor sich sahen, wußten sie nicht, ob es wiederum die Behausung eines Götzen war.
Sandal merkte zuerst, daß er auf sorgfältig geglättetem Boden ging. Er blieb stehen und flüsterte: »Achtung! Wir sind wieder auf einer Insel des Wahnsinns!«
Chelifer prallte auf seinen Rücken. Tahonka kam an ihre Seite und betrachtete die Ansammlung aus Steinbrocken, die sich vor ihnen auftürmte.
»Was ist das?« fragte er knurrend.
»Ein Götzenhaus. Eine weitere Insel. Ganz ohne Zweifel!« sagte Sandal und deutete auf den Boden vor ihren Füßen.
Im schwachen Licht erkannten sie Muster und geometrische Formen. Hier waren Sand, Steine und verschiedenartige Mineralien zu Elementen des Schmucks gemacht worden. Der Sand war in einem Vieleck – soweit es zu erkennen war – sauber geharkt und geglättet. Einzelne Reihen von kleinen Steinen bildeten Figuren. Sandal kniff ein Auge zu und versuchte, Einzelheiten zu erkennen.
»Man muß schon die Phantasie eines wahnsinnigen Götzen haben«, flüsterte er und nahm den Bogen von der Schulter.
Inmitten dieser sorgfältig planierten Landschaft stand ein phantastisches Bauwerk aus verschieden großen gezackten Steinen.
Farbiger Staub, Steine und Muster im gelben Sand umgaben den Bau. Das Areal war mindestens einen Quadratkilometer groß und völlig mit diesen Fabelfiguren ausgefüllt. Sandal wußte, daß ihre Fußabdrücke das Muster zerstören würden; er zog sich langsam und vorsichtig zurück, bis er wieder auf unbearbeitetem Boden aus Sand und Steinen stand. Es wurde heller und heller. Die Tiere des Dschungels vollführten beim ersten Sonnenstrahl einen gewaltigen Lärm, unter dem sich die drei Fremden duckten. Sie zogen sich zurück, bis sie wieder in sicherer Deckung standen.
»Er hat sich ein Reich aus Mineralien gebaut. Oder bauen lassen!« sagte Chelifer ungläubig.
»Du hast recht!« stimmte Tahonka zu.
Eine Kuppel, etwa zwanzig Meter durchmessend und vierzig Meter hoch, erhob sich aus den farbigen zweidimensionalen Gestalten. Wahllos war Stein auf Stein geschichtet worden. Oben gab es riesige Trümmer, unten bildeten viele aufeinandergepreßte kleine Lavatrümmer eine Art runde Mauer. Dieser konisch zulaufende, mit einer abgerundeten Spitze versehene Turm besaß eine Menge natürlicher Erker, die aus den Oberflächen der Steine gebildet waren. Viele kleine, vorwiegend runde Öffnungen waren mit knorrigen Ästen abgestützt. Das Gebilde drohte jede Sekunde einzustürzen. Jetzt sahen die drei Freunde auch den Weg, der in Schlangenlinien verlief und rechts von ihnen im Wald verschwand. Er war mit vielen großen, sauber aneinandergelegten und im Sand halb vergrabenen Steinen gekennzeichnet.
In der Spitze des Turmes fiel ein rohes Brett um neunzig Grad herunter. Es wurde von zwei Fäden oder Schnüren waagrecht gehalten. Auf dem Brett stolzierte ein großer farbenprächtiger Vogel heraus, drehte und wand sich, hob den Schwanz und schlug ein Rad. Dann riß er den roten Schnabel auf, atmete hörbar keuchend ein und begann zu schreien.
Chelifer hielt sich die Ohren zu. »Es klingt wie … wie das Heulen eines Geschundenen!«
Über die kleine Lichtung hallten Schreie, wie sie alle drei Freunde noch nie in ihrem Leben gehört hatten. Mit der Lautstärke eines wütenden Sauriers entrang sich der kleinen Vogelkehle ein Geräusch, das eine Mischung zwischen Sirene, Raubtiergeschrei, Weinen und Heulen war. Dann ließ der Vogel erschöpft seine Flügel hängen, faltete den farbenprächtigen Schweif zusammen und schlich über das Brett zurück in den Wohnturm.
Chelifer nahm die Finger aus den Ohren und schaute Sandal fragend an.
»Was war denn das?« fragte Tahonka-No und schob einen Zweig zur Seite, um besser sehen zu können.
»Keine Ahnung. Offensichtlich ein natürlicher Wecker!« meinte Sandal.
Nach einer Weile schwebte aus dem untersten, größten ›Einflugloch‹ dieses steinernen Bienenkorbes einer der kleinen Roboter hervor. Er richtete seine Linsen und Antennen nach allen Richtungen, dann glitt er geräuschlos entlang des kurvenreichen Weges. Die Maschine verschwand nach einigen Sekunden im Dschungel. Abgesehen von den Schreien der erwachten Tiere, die auf Nahrungssuche gingen, rührte sich eine Weile lang nichts.
Insekten umschwirrten die drei Wartenden. Schon jetzt waren die Hitze und Schwüle des kommenden Tages spürbar. Weder Chelifer noch die beiden Männer bewegten sich; sie standen und lehnten da und sahen hinüber zu dem
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