Silberband 089 - Sie suchen Menschen
Illusionen sind, müssen wir bestimmte Regeln beachten, wenn wir nicht erlöschen wollen. Dobrak, ich bitte Sie, die Auswirkungen einer möglichen Krise unter den Mucys zu ermitteln.«
Wortlos wandte Dobrak sich dem Kommunikationspult zu, mit dem er mit SENECA-Shetanmargt in Verbindung treten konnte. Als er schaltete, erloschen die Myriaden wirbelnden Lichtpunkte in dem Trivideokubus. Über die anderen Wände huschten vielfarbige Lichter, dazwischen vogelähnliche Schatten, auf die menschliche Mentalität abgestimmte optische Nebeneffekte der Arbeit des Rechenverbunds.
Nach einer Weile sagte SENECAs melodische Stimme: »Eine Krise unter den Multi-Cyborgs würde den Zusammenbruch von Atlans Strategie und höchste Gefahr für das NEI bedeuten. Am folgenschwersten müsste sich eine solche Krise in der Yolschor-Dunstwolke auswirken. Begründung: Die Yolschor-Dunstwolke beziehungsweise die dort stationierten Mucys sollen im höchsten Gefahrenfall für das NEI dem Gegner vorgaukeln, dass sich dort der Hauptsitz des Imperiums der Neuen Menschheit verbirgt. Notfalls soll das Pseudo-NEI zugunsten des echten NEI geopfert werden. Fällt das Pseudo-NEI im Gefahrenfalle aus, kann der Feind nicht irregeleitet werden. Es besteht dann die Gefahr, dass er das echte NEI findet.«
Bericht Tatcher a Hainu
Ich öffnete Rorvics Kabinenschott mit meinem Impulsgeber-Duplikat, da es ohnehin sinnlos gewesen wäre, das fette Scheusal mit dem Türsummer wecken zu wollen. Allerdings kam ich nicht weit. Von dem schäbigen Teppich, auf dem mein Vorgesetzter sonst zu meditieren pflegte, erhob sich ein schwarz-gelb geflecktes löwengroßes Raubtier, streckte sich und riss gähnend den Rachen auf. Ich erblickte zwei zirka zwanzig Zentimeter lange gelbliche Reißzähne, die aus dem Oberkiefer ragten.
Das Vieh war ein Smilodon – ein Säbelzahntiger! Dennoch fasste ich mich schnell wieder, denn bei Dalaimoc Rorvic hatte ich notgedrungen gelernt, mich blitzschnell auf die unglaublichsten Situationen umzustellen.
»Was fällt Ihnen ein, harmlose Besucher zu erschrecken, Sir?«, fragte ich in der Überzeugung, Rorvic hätte sich in den Säbeltiger verwandelt.
Das Tier reagierte nicht. Seine gelben Augen funkelten mich gierig an – und plötzlich entdeckte ich zwischen den kleineren Zähnen des Unterkiefers einen graugrünen Fetzen einer Bordkombination! Demnach war die Bestie Realität – und sie hatte meinen Vorgesetzten gefressen.
Vergeblich tastete ich über meinen Waffengürtel. Impulsstrahler und Paralysator hatte ich in meiner Kabine gelassen. Schließlich musste man an Bord unseres Schiffs nicht bewaffnet sein. Jedenfalls hatte ich das bis zu diesem Moment angenommen.
Fieberhaft überlegte ich. Wenn ich zurückwich, würde ich damit den Verfolgungsinstinkt des Smilodons wecken. Ich konnte auch nicht blitzschnell auf den Korridor fliehen, denn das Schott hatte sich hinter mir wieder geschlossen.
»Wenn du Rorvic verspeist hast, kannst du keinen Hunger mehr haben«, sagte ich – und kam mir sofort darauf reichlich dumm vor. Das Tier konnte mich ja nicht verstehen. Erst durch diese Überlegungen überwand ich meinen Schock und wurde mir der Ungeheuerlichkeit bewusst, dass Dalaimoc Rorvic tot war, zerrissen vom riesigen Gebiss eines Säbelzahntigers.
Der Schmerz über diesen Verlust bewirkte, dass mein Magen sich zu einem steinharten Klumpen zusammenballte. Mein Blick verschleierte sich. Plötzlich fürchtete ich mich nicht mehr. Aber ich brachte es auch nicht fertig, das Tier wegen seiner Tat zu hassen. Schließlich war es nur seinem Instinkt gefolgt.
Als der Smilodon auf lautlosen Sohlen näher schlich, schloss ich die Augen. Es hatte keinen Sinn, gegen die Kraft und Wildheit dieses Tieres anzukämpfen. Irgendwie tröstete mich nur der Gedanke an Dobraks Behauptung, von der ich gehört hatte. Wir alle waren nur Illusionen einer übergeordneten Illusion.
Eine feuchte Schnauze stieß sanft gegen meinen rechten Handrücken. Sanft war der Stoß aber nur für den Säbelzahntiger – mich warf er um.
Im nächsten Augenblick hörte ich das charakteristische Zischen eines Schottes. Es erklang aber nicht hinter mir, sondern vor mir.
Ich blinzelte und sah, dass die Nasszelle offen stand. Sekunden später stapfte die unbekleidete Gestalt Dalaimoc Rorvics durch die Öffnung. Seine Nacktheit gab ein Geheimnis preis, das mir allerdings schon lange bekannt war: Der scheinbar total verfettete Körper enthielt kein überflüssiges Gramm Fett,
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