Silberflügel: Roman (German Edition)
war heute windig genug, dass man leicht dagegen geweht werden konnte. Es hatte aber auch Blitze gegeben.
Die Elster fing ein Leuchten von etwas Metallischem am Körper des Tieres auf. Eine Art rußiger Ring am Unterarm. Und siehe da, es gab noch mehr davon. Sie hüpfte näher heran. Sie hatte noch nie einen solchen Kopf bei einem Vogel gesehen. Welches Maul! Aber ihre Aufmerksamkeit wandte sich wieder den Ringen zu. Das war es, was sie wollte. Wenn sie sie einfach abreißen könnte.
Der Gestank des Tieres war wahrlich überwältigend. Die Elster senkte den Schnabel und zog an dem glänzendsten Ring. Er war stramm befestigt. Von seinem Funkeln fasziniert stürzte sie noch einmal herab und zerrte heftig.
Goths Augen und Kiefer öffneten sich gleichzeitig. Das Letzte, was die Elster sah, war eine doppelte Reihe scharfer Zähne, die auf sie zuschossen.
Nachdem Goth ein wenig von der Elster gefressen hatte, spürte er, dass seine Kräfte zurückkehrten. Jeder Augenblick verursachte Schmerzen, aber er war noch am Leben.
Am Leben.
Er war ehrlich überrascht: Zotz musste ihn vor jenem Blitzstrahl beschützt haben. Er fragte sich, ob er noch fliegen konnte. Langsam breitete er die Flügel aus. Sie waren stellenweise versengt und vernarbt, durch die Hitze des Blitzes geschmolzen. Trotzdem hatte er wahrscheinlich noch ausreichend Flügelfläche, um fliegen zu können.
Er ruhte sich aus, fraß, ruhte noch etwas. Um Mitternacht konnte er nicht länger warten. Er musste herausfinden, ob es mit dem Fliegen ging.
Er kreischte auf vor Schmerz, als er die Flügel ausbreitete, die gepeinigten Muskeln anspannte und mit den Flügeln schlug. Einige Meter lang stürzte er immer wieder ab, bis er endlich Luft unter die Flügel bekam und sich in die Höhe schraubte.
Er würde in seine Heimat zurückkehren. Er würde zu Zotz beten. Er würde wieder Kräfte sammeln. Und dann würde er eines Tages zurückkehren in diese nördliche Wüste und sich an Schatten und seiner ganzen Kolonie rächen – so wahr ihm Zotz helfe!
– 23 –
Hibernaculum
Der Fluss strömte wogend und kochend über Felsbrocken hin.
Stundenlang war Schatten ihm jetzt mit Marina gefolgt in der Hoffnung, dass irgendetwas in seinem Kopf klicken und ihm endlich sagen würde, wie er nach Hibernaculum käme. Es herrschte Dämmerlicht. Das lebhafte Glucksen des Wassers wurde lauter und in der Ferne hörte Schatten ein tiefes Grollen, das ihn auf unangenehme Weise an die Wellen des Ozeans erinnerte. Immer lauter wurde es, das Wasser floss schneller zwischen den Uferböschungen dahin, bis …
Der Fluss hörte einfach auf.
Schatten schnappte nach Luft, als der Fluss in einer glatten Wasserwand direkt nach unten fiel und an die hundert Meter hinabstürzte, um an den Ufern eines Sees aufzuschlagen. Er kreiste darüber und starrte hinab.
„Ein Wasserfall“, erklärte Marina. „Ich habe schon mal einen gesehen. Was machen wir nun?“
Schatten hatte so etwas noch nie erlebt. Brüllendes Wasser, das senkrecht durch die Luft nach unten fiel. Es gab keinen Fluss mehr, nichts, dem man folgen konnte … aber nach einem Augenblick verstand er endlich.
Dies war der letzte Orientierungspunkt seiner Mutter: ein breiter Wasserstrudel, der zwischen felsigen Ufern hinabstürzte und Nebel und Getöse nach oben warf. Er hatte nur in der falschen Richtung daran gedacht, seitwärts statt von oben nach unten.
„Wir sind da“, hauchte er. Dann sagte er lauter: „Das ist es!“
„Ja?“
„Das ist Hibernaculum.“
„Wo?“
„Folge mir.“
Er begann einen langsamen Sinkflug direkt auf den Wasserfall zu.
„Bist du verrückt geworden, Schatten?“
„Komm mit!“
Widerstrebend stellte Marina ihre Flügel auf und folgte ihm.
Er konnte den Nebel schon auf dem Gesicht spüren. Als er näher kam, sah er, dass der Wasserfall gar keine feste Wand war. Das Wasser fiel auf seiner ganzen Breite auf ganz unterschiedliche Art, in dünnen Flächen hier, in Form gewundener Schnüre dort, in nebligen Streifen, schweren Sturzbächen.
„Schatten? Was machst du?“
Und da, da war genau das, wonach er suchte. Wie ein Astloch im Baumhort: ein kleines rundes Loch inmitten eines wogenden Vorhangs von Wasser. Er richtete sein Klangauge auf die Öffnung, um sicher zu sein, dass sie sich nicht schloss.
„Bleib direkt hinter mir!“, rief er Marina zu.
Er glitt direkt auf den Wasserfall zu, legte die Flügel eng an und schoss in das Loch hinein. Wasser donnerte ihm betäubend in den Ohren –
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