Silberglocken
in solche Begeisterung geraten wäre. Nach ihrer Reaktion hätte man annehmen können, dass sie von ihrem Märchenprinzen zu einem Ball eingeladen worden war. Ihn interessierte die Feier nicht. Er hatte Besseres zu tun, als seine Zeit mit einer Hand voll von Verrückten zu vergeuden.
Er holte seine Sporttasche. “In einer Stunde bin ich wieder da”, versprach er.
“Gut. Ich bin sowieso noch nicht fertig.” Mackenzies Zunge bewegte sich so flink wie die Häkelnadel. “Ach, jetzt hätte ich es fast vergessen.” Sie warf ihre Schneeflocke auf den Tisch, sprang auf und rannte in ihr Zimmer. Einen Moment später tauchte sie mit einem weißen Briefumschlag wieder auf. “Der ist für dich”, sagte sie eifrig. “Mach ihn auf.”
“Soll ich nicht bis Weihnachten warten?”
“Nein.”
Eine silberne, bunt verzierte Karte in Form einer Glocke steckte in dem Umschlag.
“Lies vor”, drängte Mackenzie und hätte es selbst übernommen, wenn er nicht gehorcht hätte. Die Karte war eine Einladung zum Essen in dem kleinen Restaurant um die Ecke. “Ich möchte mich bei dir bedanken, weil du so ein toller Vater bist”, hatte sie geschrieben. “Auch wenn wir manchmal streiten, habe ich dich sehr lieb.”
“Ich dich auch”, sagte Philip gerührt. “Aber die Rechnung für das Essen übernehme ich.”
“Das kommt überhaupt nicht in Frage”, widersprach Mackenzie. “Ich habe mein Taschengeld gespart und bei Madam Fredrick und Arnold ein bisschen dazuverdient. Du musst ja nicht gerade das Teuerste essen.”
“Ich kann ja vorsichtshalber besonders ausgiebig frühstücken”, meinte Philip und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er ging.
Als er auf den Liftknopf drückte, ertappte er sich bei einem breiten Lächeln. In letzter Zeit lächelte er überhaupt oft, fiel ihm auf. Anfangs hatte er diesen Umzug für einen Fehler gehalten. Das dachte er längst nicht mehr. Mackenzie hatte sich sehr zu ihrem Vorteil verändert, seit sie Carrie kannte.
Die Lifttüren glitten auf, und er trat ein. Ein Stockwerk tiefer hielt der Lift schon wieder an, und Carrie stieg mit einem Wäschekorb unter dem Arm ein. Sie zögerte, als sie ihn sah.
“Ich beiße nicht”, versicherte er ihr mit einem Lächeln.
“Das behaupten alle”, gab sie keck zurück. Sie griff an ihm vorbei und drückte auf den Knopf für den Keller. Dann trat sie einen Schritt zurück. Die Tür schloss sich wieder, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Dann gab es unvermittelt einen scharfen Ruck, und die Kabine sackte einen Meter ab.
Carrie verlor das Gleichgewicht und fiel gegen die Wand. Philip konnte sich gerade noch auf den Füßen halten. Im nächsten Moment ging das Licht aus.
“Philip?” fragte Carrie unsicher.
Es war so dunkel, dass man die Hand vor den Augen nicht sah. “Offenbar haben wir einen Stromausfall”, sagte Philip überflüssigerweise.
“Oh je.” Carries Stimme klang dünn.
“Haben Sie Angst im Dunkeln?”
“Natürlich nicht”, gab sie empört zurück. “Jedenfalls nicht viel. Jeder wäre … Ich meine, es wäre ja ganz normal, wenn man unter diesen Umständen ein wenig beunruhigt wäre.”
“Natürlich”, pflichtete er ihr bei und musste lächeln.
“Wie lange dauert es, bis der Strom wiederkommt?”
“Ich weiß es nicht. Geben Sie mir Ihre Hand.”
“Warum?” fragte sie misstrauisch.
“Vielleicht hilft es.”
“Oh. Hier.” Er streckte den Arm aus und bekam ihre Hand zu fassen. Sie klammerte sich an ihn wie an einen Rettungsanker. Ihre Finger waren eiskalt.
“Sie brauchen keine Angst zu haben.”
“Ich weiß”, erwiderte sie trotzig.
Er konnte nicht sagen, wer sich zuerst bewegt hatte, aber auf einmal hatte er schützend den Arm um sie gelegt und sie an sich gedrückt. Wenn er ganz ehrlich war, dann wünschte er sich seit ihrem gemeinsamen Kinobesuch nichts anderes, als Carrie in den Armen zu halten. Er hatte sich zwar nicht erlaubt, diesen Gedanken in seiner Fantasie nachzugehen, aber es fühlte sich gut an, sie so nahe bei sich zu haben. Es fühlte sich sogar viel zu gut an, wenn er ehrlich war.
Sie schwiegen beide. Philip wusste nicht genau, was in ihm vorging. Vielleicht wollte er nicht, dass die Wirklichkeit in seine Träume eindrang. In der Dunkelheit fühlte er sich sicher. Da konnte er seinen Schutzschild einmal für kurze Zeit ablegen. Carrie hatte wahrscheinlich wirklich Angst und sagte deshalb nichts. Er spürte, wie sie zitterte, und nutzte die Gelegenheit, sie noch enger an sich zu
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