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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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eingehüllt in ihr Haar, die Decken zurückgeschlagen, damit er sie im Kerzenlicht betrachten konnte. Ihre Kerze, ein Geschenk. Sogar das Licht stammte von ihr.
    »Wusstest du«, fragte ihn Rachel, »dass du im Grunde doch ein Musiker bist?«
    »Ich wünschte, es wäre so«, hörte er sich antworten. »Du weißt, ich kann nicht einmal singen.«
    »Aber nein«, sagte sie, ihr Gedankenspiel fortsetzend, und streichelte die Haare auf seiner Brust. »Du bist einer. Du bist ein Harfenspieler, Paul. Du hast die Hände eines Harfenisten.«
    »Wo habe ich dann meine Harfe?« Der logisch denkende Mann.
    Und Rachel erwiderte: »Das bin natürlich ich. Mein Herz ist deine Harfensaite.«
    Wie konnte er anders, als zu lächeln? Sogar das Licht …
    »Weißt du«, fuhr sie fort, »wenn ich nächsten Monat spiele, den Brahms, dann wird es für dich sein.«
    »Nein. Für dich selbst. Behalte das für dich.«
    Sie lächelte. Er konnte es nicht sehen, aber er wusste inzwischen auch so, wann Rachel lächelte.
    »Ein eigensinniger Mann.« Sie berührte ihn leicht mit ihrem Mund. »Dann lass es uns teilen. Darf ich den zweiten Satz für dich spielen? Bist du bereit, wenigstens das anzunehmen? Erlaube mir, diesen Teil zu spielen, weil ich dich liebe. Um es jedermann zu verraten.«
    »O Frau«, hatte er geflüstert. Hand des Harfenisten. Herz der Harfensaite.
    Frau, Frau, Frau.
     
    Was ihn diesmal zu Bewusstsein gebracht hatte, wusste er nicht. Aber die Sonne war fort. Die Dunkelheit kam. Leuchtkäfer. Die dritte Nacht also. Die letzte. Drei Nächte lang und auf ewig, hatte der König gesagt.
    Der König war tot. Woher wusste er das? Und kurz darauf erschien es ihm, als sei tief drinnen, unterhalb des verbrannten, geschlagenen Horts der Schmerzen, zu dem er geworden war, ein Teil von ihm erhalten geblieben, der Furcht empfinden konnte.
    Woher wusste er, dass Ailell tot war? Der Baum hatte es ihm mitgeteilt. Er registrierte das Ableben von Großkönigen, hatte es immer getan. Er war hier weit zurück im Boden der Zeit gepflanzt worden, um sie zu sich zu rufen. Von lorweth bis Ailell waren sie die Kinder Mörnirs, und der Baum wusste es, wenn sie starben. Und jetzt wusste er es ebenfalls. Er hatte es erfahren. Nun weihe ich dich Mörnir; die andere Hälfte des Segens. Er war geweiht. Er verwandelte sich in Wurzel, in Zweig. Er war hier nackt, seine Haut berührte die Rinde; nackt in jeder Hinsicht, so schien es, denn tief in seinem Innern wurde es erneut dunkel, öffnete sich die verriegelte Tür. Er war so offen, dass der Wind durch ihn hindurchblasen konnte, Lichtschein, Schatten.
    Wieder wie ein Kind. Licht und Schatten. Einfachheit. Wann hatten alle diese Verwicklungen begonnen.
    Er konnte sich erinnern (dies war eine ganz andere Tür), wie er bei einbrechender Dunkelheit auf der Straße Baseball gespielt hatte. Wie er das Spiel fortgesetzt hatte, als längst die Straßenbeleuchtung sich eingeschaltet hatte, so dass der Ball wie ein Komet aus der Helligkeit ins Dunkel geflogen kam, kaum zu erkennen und doch gerade noch zu fangen. Der Duft frischgemähten Grases und Blumen auf den Veranden, das Leder eines neuen Fängerhandschuhs. Sommerliches Zwielicht, sommerliche Dunkelheit. All diese Zusammenhänge. Wann hatte sich das Blatt gewendet? Warum hatte es sich wenden müssen? Der stetige Ablauf, der sich so veränderte, dass es zu Trennungen, vorzeitigem Abschied, zu Schlusspunkten kam, die allesamt wie Pfeile auf ihn herabregneten, nicht vorhersehbar und unausweichlich.
    Und dann Liebe, Liebe, die schlimmste aller Unstetigkeiten. Denn es hatte den Anschein, als habe sich diese Tür am Ende doch in jene andere verwandelt, der er sich nicht stellen konnte. Nicht einmal die Kindheit war mehr ungefährdet, nicht heute Nacht. Nicht hier angesichts des Endes, nackt am Baum.
    Und da begriff er endlich: warum man nackt sein musste, wahrhaft nackt, wenn man dem Gott gegenübertrat. Es war der Baum, der ihn Schicht um Schicht entkleidete, bis hinab auf das, vor dem er sich versteckt hatte. Bis auf das – hatte es da nicht früher einmal etwas gegeben, das sich Ironie nannte? –, wovor er sich mit seinem Kommen weiter hatte verbergen wollen. Musik. Ihr Name. Tränen. Regen. Die Schnellstraße.
    Wieder verwirrten sich seine Gedanken, er glitt ab: Die Leuchtkäfer zwischen den Bäumen waren zu Scheinwerfern entgegenkommender Autos geworden, was außerordentlich absurd war. Aber dann doch auch wieder nicht, denn nun saß er im Auto und fuhr sie auf

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