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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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dem Lakeshore Boulevard im Regen nach Osten.
    Es hatte geregnet in der Nacht, als sie starb.
    Ich will nicht, ich will nicht hierher, dachte er und klammerte sich an das Nichts, letztes verzweifeltes Aufbäumen seines Bewusstseins, um dem zu entkommen. Bitte lass mich einfach sterben, lass mich Regen für sie sein.
    Doch nein. Jetzt war er der Pfeil. Der Pfeil am Baum, Mörnirs Pfeil, und er sollte nackt geopfert werden, oder gar nicht.
    Oder gar nicht. Diese Möglichkeit gab es noch, stellte er fest. Er konnte sterben. Diese Wahl war ihm geblieben, er konnte sich fallenlassen. Das stand ihm frei.
    Und so kam Paul Schafer in der dritten Nacht zur letzten Prüfung, bei der bisher jedermann versagt hatte, der Öffnung. Wo die Könige von Brennin oder jene, die in ihrem Namen gekommen waren, erfahren hatten, dass der Mut, sich dort aufzuhalten, die Kraft, alles zu ertragen, selbst die Liebe zu ihrem Land allein nicht ausreichten. Am Baum konnte man sich nicht länger verbergen, weder vor den Lebenden noch vor den Toten, auch nicht vor der eigenen Seele. Nackt oder gar nicht trat man den Weg zu Mörnir an. Und, oh, das war zu viel für sie, zu schwer, zu ungerecht nach allem, was sie bereits durchgemacht hatten, dann auch noch gezwungen sein, die dunkelsten Orte aufzusuchen, so schwach, so unglaublich verletzbar.
    Und so ließen sie sich fallen, die tapferen Könige des Schwertes, die Weisen, die ritterlichen Prinzen, alle wandten sie sich ab von so viel Nacktheit und starben vorzeitig.
    Doch nicht in jener Nacht. Aus Stolz, aus reinem Eigensinn, und ganz gewiss wegen des Hundes brachte Paul Schafer den Mut auf, sich nicht abzuwenden. Er ging den Weg in die Tiefen. Pfeil des Gottes. So offen, dass der Wind durch ihn hindurchblasen, das Licht durch ihn hindurchscheinen konnte.
    Die letzte Tür.
     
    »Der Dvořák«, hörte er. Seine eigene lachende Stimme. »Der Dvořák mit der Symphonie. Kincaid, du bist ein Star!«
    Sie lachte nervös. »Es findet doch bloß auf dem Ontario Place statt. Im Freien, mit einem Baseballspiel im Stadion dahinter. Niemand wird auch nur einen Ton hören.«
    »Wally wird es hören. Wally ist längst in dich verliebt.« »Seit wann bist du mit Walter Langside so eng verbunden?«
    »Seit dem Konzert, Frau. Seit er diese Kritik geschrieben hat. Jetzt ist er mein wichtigster Mann, Wally.« Sie hatte alles gewonnen, hatte jeden für sich gewonnen. Sie hatte verblüfft. Alle drei Zeitungen waren dort vertreten gewesen, wegen der vorher verbreiteten Gerüchte, mit wem man es bei ihr zu tun habe. Für ein Schulabschlußkonzert war das etwas Unerhörtes. Der zweite Satz, hatte Langside vom Globe geschrieben, könne überhaupt nicht schöner gespielt werden.
    Sie hatte alles gewonnen. Hatte jeden Cellisten übertroffen, den das Konservatorium Edward Johnson Hall je hervorgebracht hatte. Und heute war nun der Anruf des Toronto Symphony Orchestra erfolgt. Das Cellokonzert von Dvořák. Am 5. August, auf dem Ontario Place. Unerhört. Deshalb waren sie zu Winston’s essen gegangen und hatten hundert Dollar seines Stipendiums für die historische Fakultät dafür ausgegeben.
    »Vermutlich wird es regnen«, sagte sie. Die Scheibenwischer hinterließen ihr gleichmäßiges Muster auf der Windschutzscheibe. Es goss in Strömen.
    »Die Konzertmuschel hat ein Dach«, antwortete er leichthin, »und die ersten zehn Sitzreihen. Und sollte es tatsächlich regnen, musst du wenigstens nicht gegen die Blue Jays ankämpfen. Für dich in jedem Fall ein Gewinn, Kind.«
    »Also, heute Abend bist du ziemlich aufgekratzt.« »Das bin ich, in der Tat«, hörte er den Menschen, der er gewesen war, zugeben, »ziemlich aufgekratzt. Ich bin total aufgekratzt.«
    Er überholte einen mühsam dahinkriechenden Chevy.
    »O Mist«, bemerkte Rachel.
    Bitte, flehte eine verlorene, kleinlaute Stimme im Innern des Götterholzes. Seine Stimme. Oh, bitte. Doch er war jetzt mitten drin, hatte sich selber hineinbegeben, mitten hinein. Es gab kein Mitleid am Sommerbaum. Wie denn auch? So offen war er, dass der Regen durch ihn hindurchfallen konnte.
    »O Mist«, rief sie.
    »Was?« hörte er sich sagen, überrascht. Sah es im gleichen Moment passieren. In eben diesem Moment. Scheibenwischer auf dem höchsten Punkt ihrer Bahn. Lakeshore East. Gerade eben vorbei an einem blauen Chevrolet.
    Sie verhielt sich still. Als er ihr einen Seitenblick zuwarf, entdeckte er, dass sie die Hände ineinander verkrampft hatte. Sie hatte den Kopf gesenkt. Was

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