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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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genügend Platz zum Bremsen. Er würde sie im Vorbeifahren beide rammen. Bis auf eine Lücke von dreißig bis vierzig Zentimetern, wenn er links überholte. Er wusste, dass es sie wirklich gegeben hatte, in Gedanken hatte er den Vorfall so oft in Zeitlupe gesehen. Dreißig bis vierzig Zentimeter. Kein unmögliches Unterfangen; auf regnerischer Straße sehr schwierig, aber dennoch.
    Er steuerte darauf zu, schrammte den sich überschlagenden Mazda, stieß gegen die Leitplanke, drehte sich um die eigene Achse, rollte auf die andere Straßenseite und in den schleudernden Ford hinein.
    Er war angeschnallt; sie nicht.
    Mehr war nicht passiert, bis auf das, was in Wahrheit passiert war.
    Die Wahrheit sah so aus, dass es tatsächlich dreißig Zentimeter Platz gewesen waren, vielleicht nur fünfundzwanzig, oder, genauso wahrscheinlich, fünfunddreißig. Genug. Genug, wenn er nur darauf zugesteuert wäre, sobald er die Lücke sah. Aber das hatte er nicht getan, nicht wahr? Als er endlich reagiert hatte, war der Abstand auf sieben, acht Zentimeter zusammengeschmolzen, nicht genug während der Nacht, bei Regen, bei einer Geschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern. Ganz und gar nicht genug.
    Frage: Wonach ließ sich dort, am Ende, die Zeit berechnen? Die Antwort: Danach, wie viel Platz vorhanden war. Wieder und wieder ließ er den Film vor seinem inneren Auge ablaufen; wieder und wieder hatte er sie rollen gesehen. Von der Leitplanke weg, in den Ford hinein. Vorbei.
    Weil er nicht schnell genug reagiert hatte.
    Und warum – Passen Sie gefälligst auf, Mr. Schafer – warum hatte er nicht schnell genug reagiert?
    Nun, verehrtes Auditorium, moderne Methoden erlauben es uns heutzutage, die gedanklichen Abläufe dieses Fahrers im Bruchteil – was für ein passendes Wort – der Sekunde zwischen Wahrnehmung und Reaktion zu untersuchen. Zwischen Verlangen und erstem Zucken, wie Mr. Eliot es einst so glücklich formuliert hat.
    Und wo lag bei näherer Betrachtung das Verlangen? Nicht, dass wir dessen sicher sein könnten, liebe Studenten, wir befinden uns hier auf äußerst unsicherem Terrain (immerhin regnete es damals), allerdings ergibt eine sorgfältige Prüfung der Daten allem Anschein nach ein höchst merkwürdiges Zögern in den Reaktionen des Fahrers.
    Er hat reagiert, o ja, das wohl. Und bei aller Fairness – und fair wollen wir doch sein, nicht wahr – schneller, als die meisten Fahrer es getan hätten. Aber war das – und hier liegt der Haken – war das so schnell, wie er gekonnt hätte?
    Wäre es möglich, dies ist jetzt eine reine Hypothese, aber wäre es möglich, dass er diesen Bruchteil einer Sekunde gezögert hat – nur so lange, nicht länger; aber immerhin –, weil er sich im Grunde unsicher war, ob er überhaupt reagieren wollte? Verlangen und erstes Zucken. Mr. Schafer, was halten Sie davon? Lag da nicht vielleicht ein leichtes, sagen wir, Nachlassen des Verlangens vor?
    Nur weiter so. Unfallstation im St. Michaels Hospital.
    Die schlimmste Unstetigkeit. »Mich hätte es treffen sollen«, hatte er Kevin gegenüber geäußert. Bezahlen musste man dafür, so oder so. Auf keinen Fall durfte geweint werden. Das wäre der Scheinheiligkeit denn doch zu viel. Also ein Teil der Strafe: keine Tränen, keine Erleichterung. Was hatte Weinen damit zu tun? hatte er sie gefragt. Oder nein, gedacht hatte er es. Niobe, hatte er gesagt. Die Niobe-Nummer. Witzig, witzig, so schnell bei der Hand mit Abwehrmechanismen. Angeschnallt. Aber ihm war kalt gewesen, so entsetzlich kalt. Weinen, so schien es, hatte nun doch eine Menge damit zu tun.
    Doch es war noch mehr dran. Man spult das Band ab. Wieder und wieder, wie der Film, der vor seinem inneren Auge ablief, wie das ausrollende Auto: wieder und wieder das Band mit ihrer Konzertaufnahme. Und man horchte immer, ob man im zweiten Satz die Lüge erkennen konnte. Für ihn, hatte sie gesagt. Diesen Teil wolle sie spielen, weil sie ihn liebe. Also musste das eine Lüge sein. Das müsste man doch hören können, Walter Langside zum Trotz, und all den anderen. Gewiss musste man doch die Lüge hören?
    Doch nein. Ihre Liebe zu ihm in jenen Klängen, jenen makellosen Klängen. Erleuchtet. Und das konnte er nicht begreifen; wie so etwas zu erreichen war. Und jedes Mal kam der Punkt, an dem er nicht länger zuhören konnte, ohne zu weinen. Und weinen durfte er nicht, so.
    So hatte sie ihn verlassen, und er hatte sie umgebracht, und man durfte sich nicht ausweinen, wenn man so

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