Silbertod
gleichzeitig den Zipfel seiner durchweichten Mütze hochzog (er fiel augenblicklich wieder herunter). »Ich bin Dichter, Gelehrter, Unterhaltungskünstler, Geschichtenerzähler …«
»Dann bist du hier am verkehrten Tor«, unterbrach ihn der zweite Wachposten missmutig.
»Ist das denn nicht Urbs Umida?«, fragte Beag.
»Doch. Aber du bist trotzdem am falschen Tor. Versuch’s mal südlich vom Fluss«, sagte der erste Wachmann, der es nicht einmal für nötig hielt, sein Gähnen zu unterdrücken. »Da unten wirst du mehr Leute deinesgleichen finden – besser gesagt, mehr kleinesgleichen.« Über diese witzige Anspielung mussten die zwei Männer herzhaft lachen.
Beag zog die Stirn kraus. »Was meint Ihr mit ›meinesgleichen‹ ?«
»Hungerleider, Ehrgeizlinge, Zirkuskünstler«, antwortete der Torwächter, und seine Stimme klang jetzt unnachgiebig.
»Versuch’s im Flinken Finger , auf der Brücke«, sagte der andere. »Betty Peggotty, die Wirtin, stellt manchmal seltsame Kreaturen aus.« Von dieser Bemerkung bekam der andereWächter einen derartigen Lachkrampf, dass er nicht mehr sprechen konnte.
Beag, der gelernt hatte, wann man beharrlich bleiben und wann man besser nachgeben sollte, schätzte diesen Augenblick zu Recht als einen zum Nachgeben ein. »Nun gut«, sagte er und zog sich zurück. Seine Würde war unversehrt geblieben, nur auf seiner Weste zeugte ein schwacher Fleck Schießpulver von dem unsanften Stoß mit den Musketen. »Der Flinke Finger , sagt Ihr? Nun, vielleicht sehen wir uns dort. Ich wünsche Euch eine gute Nacht und alles Gute.«
Und so fand Beag kurz darauf Einlass durch das Südtor, wenn auch nicht ganz so großartig, wie er es erhofft hatte. Die Wachen dort winkten ihn durch, ohne ihn auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen. Beag entging nicht, dass der Geruch südlich des Foedus ganz besonders unangenehm war, und es dauerte nicht lange, bis ihm klar wurde, dass es am Fluss selbst liegen musste. Gewiss, auch die Straßen waren schmutzig und voller Abfälle, das meiste davon Gemüsereste und tierische Überbleibsel, doch dieser Geruch, bei dem er unwillkürlich die Nase rümpfen musste, ging eindeutig vom Fluss aus. Beag hielt sich am Ufer des Foedus, da er logischerweise annahm, die gesuchte Brücke müsse hier irgendwo sein. So kam er zum Marktplatz. Die Markthändler packten gerade zusammen, doch es liefen noch viele Leute auf dem Platz herum und suchten nach billigen Resten. Da nahm Beag ein Holzbrett aus seinem Beutel, das geschickt mit Scharnieren versehen war, sodass es sich zu einem kleinen Ein-Mann-Podest aufklappen ließ.
»Guten Abend, werte Damen und Herren«, fing er an. Diese wohlmeinende Einschätzung der versammelten Menschen entlockte zwar nur ein paar Lacher, weckte jedoch auch die allgemeine Aufmerksamkeit. »Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Beag Hickory und ich möchte Euch mit einem Lied unterhalten.«
Er begann mit klagender, zweifellos melodischer Stimme zu singen, war aber kaum beim ersten Refrain (einem von vielen) angekommen, als er ein ungewöhnliches Zischen in der Luft vernahm. Weil er die Augen geschlossen hatte, war er auf das Geschoss nicht gefasst – und bekam einen halb verfaulten Kohlkopf an den Kopf.
Als er jäh die Augen aufriss, sah er schon ein zweites Gemüsestück auf sich zufliegen, und dieses Mal duckte er sich. Der arme Kerl, der hinter ihm stand, bekam es mitten ins Gesicht. Trotzdem sang Beag unbeirrt weiter, mutig oder treuherzig. Vielleicht war es beides.
»Gib endlich Ruhe!«, rief jemand, und dann wurde Beag wieder getroffen.
»Aber«, stotterte er empört, den Mund voll Tomatenbrei, »ich hab doch gerade erst angefangen!«
»Nein, hast du nicht!«, rief ein kleiner Junge von hinten. »Du bist fertig!« Und damit ließen er und seine Freunde einen Hagel matschiger Äpfel auf ihn niederprasseln.
Beag war wütend. Noch nie in seinem Leben war sein Bemühen auf derartige Feindseligkeit gestoßen. »Du Rotznase!«, rief er dem kleinen Jungen zu. Er sprang von seinem Podest, hob den erstbesten Gegenstand auf, der ihm in die Hand fiel,eine große faulige Kartoffel, und warf sie mit solcher Kraft und Zielgenauigkeit, dass sie den Jungen zu Boden riss.
»He! Das ist mein Sohn! Was fällt dir ein?«
Beim Anblick des Mannes stand Beag erst einmal wie angewurzelt; es war der größte Mann, den er je gesehen hatte. Dieser riesige Affe überragte die ganze Menge und bahnte sich nun einen Weg auf Beag zu,
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