Silentium
Sportpräfekt der wichtigste Mann. Das ist nicht wie in der Politik oder beim Fernsehen, wo man sagt, der Dümmste soll den Sport übernehmen, sondern im Gegenteil, in einem Knabeninternat Sport fast das wichtigste. Weil der Jugendliche hat natürlich eine Energie, das glaubst du gar nicht, und die muß irgendwo hin, sonst wird er dir so nervös, da kannst du das Silentium hundertmal anschreiben, ohne Sport hoffnungslos, weil ohne Sport mußt du schon froh sein, wenn er dir nicht das Küchenmädchen in Stücke reißt.
Aber heute abend hat der junge Regens selber das Küchenmädchen gespielt, sprich, er hat aufgetischt, daß der Besprechungstisch völlig unter den Köstlichkeiten verschwunden ist: Familienpackung Erdnüsse, Familienpackung Kartoffelchips, Familienpackung Soletti, Familienpackung Salzgebäck, Familienpackung Goldfischli, Familienpackung Tuc-Salzkekse. Weil ich glaube, wenn du heute keine eigene Familie haben darfst, willst du wenigstens auch ab und zu eine Familienpackung vernichten, quasi Amoklauf.
Wie der Brenner gesehen hat, daß der junge Chef-Geistliche eine Familienpackung nach der anderen aufreißt, hat er sich erinnert, daß er einmal auf dem Kondomautomaten der Linzer Polizeikantine gelesen hat: «Günstige Familienpackung». An und für sich schlechte Wortwahl, weil man mit diesem Produkt die Familie ja gerade verhindern will. Vorsichtshalber hat der Brenner sich jetzt gleich ein paar Erdnüsse in den Mund gestopft, damit er das nicht erzählt. Weil im Beisein von zwei Priestern vielleicht eine unangemessene Bemerkung.
Und da sieht man wieder, was so eine Mauerinschrift helfen kann. Weil ohne das goldene «Silentium!», das ihn von der Wand her gemahnt hat, wäre dem Brenner die Bemerkung bestimmt herausgerutscht. Ihm ist aufgefallen, daß der Künstler die Schrift sehr schön gestaltet hat, ganz zierliche Buchstaben, aber für das «t» in der Mitte hat er keinen richtigen Buchstaben verwendet, sondern ein schlichtes Kreuz hineingeschwindelt.
Wenn man natürlich das mit den Kondomen nicht sagt, passiert es leicht, daß man gar nichts sagt. Und die drei Präfekten haben auch nichts gesagt. Aber ob du es glaubst oder nicht, Silentium ist trotzdem keines aufgekommen, weil das Salzgebäck hat zwischen den Zähnen geraschelt, Kindergeburtstag nichts dagegen.
«Vielleicht ein Bier?» hat der junge Regens endlich gefragt.
Der Hasenschartenpräfekt hat alle zehn Finger gespreizt und seine Hände ein paarmal hin und her gedreht, als wäre er noch unschlüssig, wie er antworten soll. Dann hat er aber doch mit seiner sonderbaren Stimme herausgequetscht: «Ein Schluck könne nicht schaden.»
Könne!
Einen Moment lang hat der Brenner geglaubt, es ist eine spezielle Priesterförmlichkeit, bei der man das harte «t» wegläßt und so indirekt, wie es nur geht, sagt: Ein Schluck
könne
nicht schaden. Aber der wahre Grund, warum ihm das «t» entschlüpft ist, war natürlich der gespaltene Gaumen. Weil du darfst eines nicht vergessen. Heute kann man die Hasenscharten schon wunderbar reparieren, aber der Präfekt bestimmt schon über sechzig Jahre alt, und damals haben sie ja nur die schlechtesten Schuster zu Chirurgen umgeschult. Da hast du von Glück reden können, wenn ihnen bei der Operation das Messer nicht zu oft abgerutscht ist.
Wie der junge Regens die Bierkiste hereingeschleppt hat, ist dem Brenner aufgefallen, daß er trotz seiner Jugend schon ein bißchen weichlich war. An und für sich ein gutaussehender, großer Mann, mit schwarzen Haaren und einer blassen Haut wie der reinste Stummfilmschauspieler. Wie der Bischof ihn vor ein paar Jahren zuerst als Präfekt ins Marianum versetzt hat, sogar Gerede, es wäre wegen der Betschwestern in der alten Pfarre. Weil die haben sich damals um den frisch geweihten Pfarrer gedrängt, das glaubst du nicht. Da hätte man glauben können, es ist gar kein Altar, sondern Adriastrand, und es ist gar kein Priester, sondern Animateur im Holidayclub, und es ist gar nicht immer nur der Leib Christi, der hier angebetet wird, sondern Leib des Stellvertreters auch ein bißchen mit von der Partie.
Aber wie gesagt, Jahre her, und inzwischen war er der jüngste Regens in der Geschichte des Marianums. Unglaublich, wie sich dieser Mann entwickelt hat. Seine einzige Schwäche war vielleicht, daß sich sein Appetit genauso unglaublich entwickelt hat. Mit der Fastenzeit hat er zwar sein Gewicht immer wieder unter Kontrolle gebracht, und mit dem hat man sich stundenlang
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