Silenus: Thriller (German Edition)
Seite ihres Kopfes, als wollte sie die Erinnerung aus irgendeinem Sprung im Schädel herausmassieren, aber es wollte nicht gelingen. »Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, dass, wenn Leute Silenus’ Vorstellung besuchen … irgendwas passiert. Ich weiß nicht, was es ist. Aber sie können sich anschließend nie erinnern. Sie können kaum beschreiben, was sie gesehen haben. Es ist, als wäre es nur ein Traum gewesen.«
»Das ist unmöglich«, meinte Irina. »Es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass eine Darbietung so auf einen Menschen wirken kann.«
»Und doch können selbst Sie sich nicht erinnern«, gab George zurück. »Und auch niemand sonst. Die Leute hier wissen nur, dass Silenus in diesem Theater aufgetreten ist, aber was er auf der Bühne getan hat, ist ihnen ein Rätsel, obwohl sie während seiner Auftritte gespielt haben.«
»Und das willst du dir persönlich ansehen? Darum geht es?«
George zögerte. »Na ja, etwas mehr ist schon dran. Aber, ja, ich möchte ihn sehen.«
»Aber warum, Kind? Was du mir erzählst, ist wirklich seltsam, das gebe ich zu, aber du hast es mit uns sehr gut getroffen. Du verdienst Geld. Du kannst deinen Lebensunterhalt bestreiten, dich einkleiden …« Sie warf einen argwöhnischen Blick auf Georges cremefarbenen Anzug. »… und das sogar einigermaßen ordentlich. Du setzt eine Menge aufs Spiel.«
»Was geht es Sie an? Warum interessieren Sie sich überhaupt so für mich?«
Irina seufzte. »Tja, sagen wir einfach, dass ich auch mal in deinem Alter war. Und ich hatte etwa genauso viel Talent wie du, Junge. Aber manche Entscheidungen, die ich getroffen habe, waren … töricht. Ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt, und ich bezahle ihn noch immer.« Ihre Stimme verlor sich, und sie rieb sich den Hals. George sagte nichts; Irina sprach nur sehr selten über ihre Vergangenheit. Endlich räusperte sie sich und fuhr fort: »Ich würde nur ungern erleben, dass dir das Gleiche widerfährt. Du hattest bisher Glück, George. Wenn du aber das, was du hast, zurücklässt und Silenus nachjagst, dann wirst du dein Glück auf die Probe stellen.«
»Ich brauche kein Glück«, sagte George. »Sie haben selbst gesagt, ich könnte bessere Engagements finden. Jeder sagt das.«
»Du bist hier verhätschelt worden«, entgegnete sie streng. »Ständig wurdest du nur gelobt, und das verleitet dich zu Dummheiten.«
George richtete sich gekränkt auf, faltete die Theaterkarte sorgsam zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. »Vielleicht. Aber ich würde alles auf Erden riskieren, um ihn zu sehen, Irina. Sie haben keine Ahnung, was ich auf mich genommen habe, um diese Chance zu bekommen.«
»Und was, denkst du, wird passieren, wenn du diesen Silenus findest?«, fragte sie.
Schweigend dachte George über die Frage nach, aber noch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Van Hoever stolzierte heraus.
Als er George dort sitzen sah, blieb Van Hoever stehen. Ein kaltes Glitzern zeigte sich in seinen Augen. »Du.«
»Ich«, entgegnete George milde.
Van Hoever deutete auf sein Büro. »Rein da. Sofort.«
George stand auf, schnappte sich seine Sachen und ging mit einem letzten Blick auf Irina in Van Hoevers Büro. Irina sah ihm nach, schüttelte den Kopf. »Du bist immer noch ein Junge. Vergiss das nicht«, sagte sie. Dann schloss sich die Tür hinter ihm, und sie war fort.
Keine halbe Stunde später trat George aus der Theatertür hinaus in das unwirtliche Februarwetter. Van Hoevers Tirade war erstaunlich knapp ausgefallen; der Mann hatte sich verzweifelt darum bemüht, George wenigstens so lange zu halten, bis er Ersatz für ihn gefunden hatte, und war bereit gewesen, ihn entsprechend zu bezahlen, aber George wollte sich nicht darauf einlassen. Er hatte erst heute, am Freitag, Neuigkeiten über Silenus’ Vorstellung am selben Abend erhalten, und der Mann würde Parma mit seiner Truppe schon morgen verlassen. Dies war seine einzige Chance, und es würde so oder so recht knapp für ihn werden, da die Zugfahrt nach Parma beinahe den ganzen Tag dauern würde.
Nachdem er die Gage für die vergangene Woche eingestrichen hatte, kehrte er in seine Unterkunft zurück, packte seine Sachen (was auch eine Weile dauerte, da George sehr auf eine anständige Garderobe bedacht war), bezahlte seine restliche Miete und nahm die Straßenbahn zum Bahnhof. Dort wartete er auf den Zug, unterdrückte das Zittern in der winterlich kalten Luft und sah jede Minute zur
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