Silo 1: Roman (German Edition)
worden war, und, den Nummern
auf den Taschen folgend, die Reinigung hinter sich bringen, während er über die
Furcht einflößenden Dimensionen einer Außenwelt nachdachte, die so groß war,
dass man niemals all die Luft atmen, all das Wasser trinken, all das Essen
essen konnte, das es hier gab.
Davon träumte er,
während er pflichtschuldig die dritte Linse bürstete. Er wischte, sprühte,
polierte, dann kam er zur letzten Kamera. Er hörte den Puls in seinen Ohren,
sein Herz raste, sein Körper steckte noch immer in diesem beengenden Overall.
Bald, bald!, sagte er sich. Er nahm den zweiten Wollebausch und entfernte den
Dreck, sprühte, polierte ein letztes Mal, dann verstaute er alles wieder in den
nummerierten Taschen, denn er wollte den Reinigungsmüll auf keinen Fall auf
diesem prächtigen, gesunden Boden unter seinen Sohlen zurücklassen. Fertig.
Holston wich zurück, er warf einen letzten Blick auf die menschenleere Kantine
und den Aufenthaltsraum und drehte dann denjenigen den Rücken zu, die
ihrerseits ihm und Allison und all den anderen vor ihnen den Rücken zugedreht
hatten. Es musste einen Grund geben, warum niemand zu den Menschen im Silo
zurückkam, dachte Holston, genauso wie es auch einen Grund gab, aus dem jeder
Verurteilte die Reinigung übernahm, obwohl er gesagt hatte, er werde es nicht
tun. Holston war frei, er würde nun zu den anderen gehen. Und so trottete er
auf den Spuren seiner Frau zu der dunklen Spalte, die sich den Hügel hinaufzog.
Er sah, dass eine vertraute Gestalt, die lange Jahre dort geschlafen hatte wie
ein Stein, nun nicht mehr da lag. Auch das, entschied Holston, das Bild seiner
toten Frau, war lediglich eine gepixelte Lüge gewesen.
7. KAPITEL
Er
war ein Dutzend Schritte den Hügel hinaufgegangen, bestaunte noch immer das
saftige Gras am Boden und den strahlenden Himmel darüber, als ihm ein Stich in
den Magen fuhr. Es war ein schmerzhafter Krampf, als hätte er großen Hunger.
Erst fürchtete er, er hätte sich zu sehr beeilt, zunächst mit der Reinigung,
dann auf dem Weg zu seiner Frau, er kam in dem Overall nur mühsam voran, als
würde er durch zähes Wasser waten. Er wollte den Anzug erst ausziehen, wenn er
den Hügel erklommen hätte und außer Sicht wäre, um die Illusion, die die
Kantinenwände vermittelten, nicht zu durchkreuzen. Er konzentrierte sich auf
die Spitzen der Hochhäuser und zwang sich, langsamer zu gehen, sich zu beruhigen.
Ein Schritt nach dem anderen. Nachdem er viele Jahre lang dreißig Stockwerke im
Silo hinauf- und hinuntergeeilt war, hätte der Hügel hier eigentlich ein Klacks
sein sollen.
Wieder ein Krampf,
heftiger dieses Mal. Er ächzte und blieb stehen, wartete, bis es vorüber war.
Wann hatte er zuletzt etwas gegessen? Gestern gar nichts. Wie dumm. Wann war er
zuletzt auf der Toilette gewesen? Wieder konnte er sich nicht erinnern. Vielleicht
würde er den Anzug früher ausziehen müssen als geplant. Als der Schwindelanfall
vorbei war, ging er weiter und hoffte, er würde die Hügelkuppe vor der nächsten
Woge erreichen. Doch nach einem weiteren Dutzend Schritten erwischte es ihn
wieder, dieses Mal noch heftiger, die Schmerzen waren schlimmer als alles, was
er je verspürt hatte. Er würgte vor Qualen, sein leerer Magen war nun ein
Segen. Er griff sich an den Bauch, seine Knie gaben schlotternd nach. Stöhnend
ging er zu Boden. Er konnte ein paar Meter weiterkrabbeln, der Schweiß rann ihm
von der Stirn und troff in seinen Helm. Er sah helle Blitze – ein paarmal wurde
die ganze Welt grellweiß. Verwirrt und wie besinnungslos kroch er weiter
bergauf, bewegte sich mühsam, sein Geist war noch immer auf dieses letzte,
klare Ziel konzentriert: Er wollte den Hügel erklimmen.
Holston konnte nur
noch mit Mühe sehen. Etwas lag auf seinem Weg, er stieß dagegen, sein Arm
verdrehte sich, er fiel auf die Schulter. Blinzelnd blickte er nach vorn, den
Hügel hinauf, und wartete, bis er wieder klare Sicht haben würde auf das, was
vor ihm lag. Er sah aber nur gelegentlich grünes Gras aufblitzen.
Und dann verlor er
vollkommen die Sicht. Alles wurde schwarz. Er sah noch ein Schimmern, ein Blinken
in seinem Gesichtsfeld, er wusste, dass er nicht blind war, das Blinken kam aus
dem Inneren seines Helms. Sein Visier war plötzlich erblindet, nicht er!
Er tastete nach den
Schnallen hinten am Helm. Hatte er denn alle Luft aufgebraucht? Erstickte er nun?
Wurde er von seinen eigenen Atemgasen vergiftet? Natürlich! Warum hätten sie
ihm auch mehr Luft
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