Silo 1: Roman (German Edition)
an ihre glücklichen Tage dachte, blickte er an Allison vorbei an die
Wand, er sah den Stand des Mondes und las daran die Nachtstunde ab. Ihre Zeit
war begrenzt. Morgen wäre seine Frau weg. Immer wieder durchzuckte dieser
einfache Gedanke seinen Kopf wie ein Blitz eine Sturmwolke.
»Jeder hat seine
Theorien«, sagte er. »Wir haben unzählige Male darüber gesprochen. Lass uns
einfach …«
»Aber jetzt weißt du
etwas Neues. Wir beide wissen nun etwas Neues, es ergibt jetzt alles einen
Sinn, die Einzelteile passen zusammen. Morgen werde ich die Wahrheit kennen.«
Lächelnd tätschelte sie Holstons Hand, als wäre er ein Kind. »Und eines Tages
wirst auch du die Wahrheit kennen, Schatz.«
6. KAPITEL
Gegenwart
Im
ersten Jahr hatte Holston auf Allison gewartet, er hatte ihrer Theorie geglaubt
und gehofft, dass sie zurückkäme. An ihrem ersten Todestag hatte er die
Arrestzelle geputzt, die gelbe Tür der Luftschleuse abgewaschen, hatte auf ein
Geräusch, auf ein Klopfen gelauscht, auf ein Zeichen, dass der Geist seiner
Frau zurückgekehrt wäre, um ihn zu befreien.
Als nichts geschehen
war, hatte er angefangen, die Alternative zu durchdenken: ihr nach draußen zu
folgen. So viele Tage, Wochen, Monate hatte er damit zugebracht, ihre
Computerdateien durchzusehen, er hatte gelesen, was sie zusammengesetzt hatte,
und davon nur die Hälfte begriffen, worüber er fast selbst verrückt geworden
war. Er war zu der Ansicht gekommen, dass seine Welt eine Lüge war, und ohne
Allison hatte er nichts, wofür es sich zu leben lohnte, selbst wenn die
Silowirklichkeit real gewesen wäre.
Der zweite Jahrestag
ihres Verschwindens fiel in die Zeit seiner großen Feigheit. Er war zur Arbeit
gegangen, die verhängnisvollen Worte hatten ihm auf der Zunge gelegen – sein
Wunsch hinauszugehen –, doch er hatte sie in letzter Sekunde wieder hinuntergeschluckt.
Er und Marnes waren an diesem Tag auf Patrouille gewesen, und das Geheimnis,
wie nahe er dem Tod gekommen war, brannte noch lange später in ihm. Es war ein
quälendes Jahr voller Feigheit, er hatte Allison hängen lassen. Im ersten Jahr
war es ihr Fehler gewesen, im zweiten seiner. Aber das war vorbei.
Nun, ein weiteres
Jahr später, saß er im Reinigungsoverall allein in der Luftschleuse und war zu
gleichen Teilen voller Zweifel und Überzeugung. Hinter ihm war die dicke gelbe
Tür zum Silo fest verriegelt worden, und Holston stellte fest, dass er sich
seinen Tod so nicht vorgestellt hatte. Er hatte gedacht, er würde für immer im
Silo bleiben, und seine Nährstoffe würden wie die Nährstoffe seiner Eltern
zuvor in den Boden der landwirtschaftlichen Anlagen im achten Stockwerk
übergehen. Es schien ihm inzwischen eine Ewigkeit her zu sein, dass er von
einer Familie, von einem eigenen Kind geträumt hatte, von Zwillingen und einem
weiteren Lotteriegewinn, von einer Frau, mit der er alt werden würde …
Auf der anderen
Seite der gelben Tür ertönte eine Hupe, die alle außer ihm vertrieb. Er musste
bleiben. Er konnte nicht mehr zurück.
Die Argonkammern
zischten und pumpten den Raum voll mit Schutzgas. Nach einer Minute spürte
Holston den Luftdruck, der seinen Overall knittern ließ und eng an seine
Gelenke drückte. Er atmete den Sauerstoff ein, der im Helm zirkulierte, und
stellte sich vor die andere, die verbotene Tür, vor die Tür zu der Außenwelt,
die nun auf ihn wartete.
Kolben, die tief in
die Wände eingelassen waren, begannen zu knirschen. Die Plastikvorhänge im
Inneren der Luftschleuse wurden von dem immer größeren Druck des Argons in
Falten gelegt, sie würden geopfert, verbrannt werden, während Holston sich
draußen um die Linsen kümmerte, noch vor Einbruch der Nacht würde der Tunnel
gereinigt und für den nächsten Verurteilten vorbereitet werden.
Die massive Stahltür
vor ihm bebte, dann öffnete sich ein schmaler Spalt zwischen den Türflügeln und
wurde immer breiter, während die Türen in die Laibung gezogen wurden. Ganz
öffnen würde man sie nicht, man versuchte das Risiko der eintretenden Luft so
gering wie möglich zu halten.
Ein Argonwirbel
rauschte durch den Spalt, das Geräusch des ausströmenden Gases schwächte sich
zu einem Dröhnen ab, je weiter die Öffnung wurde. Holston drückte sich hinein – er konnte einfach nicht widerstehen und war nun von seinem eigenen Verhalten
genauso entsetzt, wie er es früher von dem der anderen gewesen war. Besser, er
ging hinaus und sah die Welt ein einziges Mal mit eigenen Augen, als dass
Weitere Kostenlose Bücher