Silo 1: Roman (German Edition)
über die
Aufstände Bescheid«, sagte sie.
Holston nickte. »Ich
weiß, du hast mir gesagt, dass es noch andere gegeben hat …«
»Nein.« Allison rückte
von ihm ab, aber nur so weit, dass sie ihm in die Augen sehen konnte. Ihr Blick
war längst nicht mehr so wild wie zuvor.
»Ich weiß, warum die
Aufstände stattgefunden haben. Ich weiß, warum, Holston.«
Allison biss sich
auf die Unterlippe. Holston wartete angespannt.
»Ich hatte immer
eine Ahnung, hatte den Verdacht, dass es da draußen gar nicht so schlimm sein
könnte, wie es scheint. Du hast das auch gespürt, nicht wahr? Dass wir überall
sein könnten, nicht bloß in diesem Silo? Dass wir in einer Lüge leben?«
Holston antwortete
nicht. Dieses Thema anzusprechen hieß: Reinigung. Er saß erstarrt da und
wartete.
»Wahrscheinlich sind
es die jungen Leute gewesen«, sagte Allison. »Alle zwanzig Jahre oder so. Die
nachwachsenden Generationen wollten weitergehen, wollten alles erforschen. Hast
du nie dieses Bedürfnis gehabt? Vielleicht als du jünger warst? Oder vielleicht
sind es auch die frisch verheirateten Paare gewesen, die es in den Wahnsinn
getrieben hat, dass man hier keine Kinder haben kann. Vielleicht sind sie
deshalb bereit gewesen, alles zu riskieren …«
Sie blickte auf
einen Punkt in weiter Ferne. Möglicherweise dachte sie an das Los, das sie noch
immer hätten einlösen können, hätte Allison sich nun nicht gegen das Silo
entschieden. Sie sah Holston an. Er überlegte, ob er sogar für sein Schweigen
zur Reinigung verurteilt werden könnte, dafür, dass er sie nicht niedergebrüllt
hatte, als sie eben diese verbotenen Dinge ausgesprochen hatte.
»Es könnten auch die
älteren Mitbewohner gewesen sein«, sagte sie, »die zu lange eingesperrt gewesen
sind und in ihren letzten Jahren die Angst verloren haben. Vielleicht wollten
sie raus und den anderen Platz machen, den wenigen kostbaren Enkelkindern. Aber
egal, wer es gewesen ist – jede Revolte hat aufgrund dieses Misstrauens
stattgefunden, dieses Gefühls, dass wir hier am falschen Ort
sind.« Sie sah sich in der Zelle um.
»Das darfst du nicht
sagen«, flüsterte Holston. »Es ist das größte Vergehen …«
Allison nickte. »…
zu sagen, dass man gehen will. Ja. Das größte Vergehen. Verstehst du denn
nicht, warum? Warum steht es denn unter Strafe? Weil alle Revolten mit diesem
Wunsch beginnen. Deswegen.«
»Jeder bekommt, was
er will« ,
zitierte Holston den Spruch, der ihm von jungen Jahren an eingebläut worden
war. Seine Eltern hatten ihn – ihr einziges, kostbares Kind – gewarnt: Er dürfe
nie sagen, er wolle den Silo verlassen. Ja, er dürfe nicht einmal daran denken!
Man müsse den Gedanken sofort verdrängen, er bedeute den sofortigen Tod, und
dann wäre es aus und vorbei mit ihrem Ein und Alles.
Holston sah wieder
seine Frau an. Er begriff ihren Wahnsinn, ihre Entscheidung noch immer nicht.
Sie hatte also Programme gefunden, mit denen man die Welt auf den Bildschirmen
real aussehen lassen konnte – was hatte das zu bedeuten? Warum sollte jemand so
etwas tun?
»Warum?«, fragte er.
»Warum bist du nicht zu mir gekommen? Es muss doch einen besseren Weg geben, um
herauszufinden, was vor sich geht. Wir hätten den Leuten erst einmal erzählen
können, was du auf diesen Festplatten gefunden …«
»Und dann wären wir
die Nächsten gewesen, die einen Aufstand angezettelt hätten?« Sie lachte. Noch
immer war da ein wenig Wahnsinn, vielleicht war es aber auch nur ihre Wut, ihre
übermäßige Frustration. Vielleicht hatte ein großer Verrat sie so weit getrieben,
ein Verrat, der über mehrere Generationen hinweg arrangiert worden war. »Nein
danke!« Ihr Lachen verklang. »Ich habe alle Spuren beseitigt. Ich will nicht,
dass die anderen es herausfinden. Sollen sie doch hier versauern! Ich komme nur
deinetwegen zurück.«
»Du kannst nicht
zurückkommen«, sagte Holston verärgert. »Meinst du, die Verbannten sind noch
immer da draußen? Meinst du, sie haben sich entschieden, nicht zurückzukommen,
weil sie sich von uns verraten fühlen?«
»Warum erledigen sie
wohl die Reinigung?«, fragte Allison. »Warum nehmen sie ihre Wolle und machen
sich an die Arbeit, ohne zu zögern?«
Holston seufzte.
Sein Ärger verflog langsam. »Das weiß niemand.«
»Aber was glaubst
du?«
»Darüber haben wir
schon geredet. Wie oft haben wir das diskutiert?« Er war sich sicher, dass alle
Paare ihre Theorien zu diesem Thema austauschten, wenn sie allein waren.
Während er
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