Silo: Roman (German Edition)
Peter.
Sie nickte. »Ich
weiß, was ihr denkt. Ihr denkt, wir brauchen die Lügen, die Angst …«
Peter nickte.
»Aber was sollen wir
denn erfinden, was noch beängstigender wäre als das, was wirklich da
draußen ist?« Sie zeigte zum Dach und wartete darauf, dass die beiden
verstanden, was sie meinte.
»Als die Silos
gebaut worden sind, war die Idee, dass wir alle im selben Boot sitzen sollen.
Zusammen, aber getrennt. Dass wir nichts voneinander wissen, damit wir einander
nicht anstecken, wenn einer von uns krank wird. Ich will da nicht mehr
mitspielen. Ich weigere mich einfach.«
Lukas legte den Kopf
schief. »Ja, aber …«
»Also heißt es: wir
gegen die. Und zwar nicht gegen die Menschen in den Silos, die jeden Tag zur
Arbeit gehen und keine Ahnung haben, sondern gegen die an der Spitze, gegen die
Leute, die Bescheid wissen. Silo achtzehn wird anders sein. Hier wird das Wissen frei zugänglich sein. Denkt mal darüber nach. Die Leute sollen nicht
manipuliert werden, sondern lernen, wie sie für die Zukunft das Beste aus ihrer
Situation machen können. Davon sollten wir uns lenken lassen, von nichts
anderem.«
Lukas zog die
Augenbrauen hoch. Peter strich sich durchs Haar.
»Denkt mal darüber
nach.« Sie stand auf. »Lasst euch Zeit. Ich gehe meine Familie und meine
Freunde besuchen. Aber es gibt nur eine Möglichkeit: Entweder ich bin dabei,
oder ich arbeite gegen euch. Die Wahrheit werde ich so oder so verbreiten.«
Peter stand
ebenfalls auf. »Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass wir nichts
überstürzen, bis wir uns wiedersehen?«
Juliette nickte.
»Gut«, sagte Peter.
Sie wandte sich zu
Lukas. Er betrachtete sie mit zusammengepressten Lippen, und sie wusste, dass
er begriffen hatte. Es konnte nur in eine Richtung weitergehen, und er
fürchtete sich vor dieser Richtung.
Peter drehte sich um
und öffnete die Tür. Als Lukas ihm nicht folgte, wandte er sich fragend um.
»Kannst du uns einen
Moment allein lassen?«, fragte Lukas.
Peter nickte. Er
reichte Juliette die Hand, und sie bedankte sich zum tausendsten Mal. Er
berührte seinen Sheriffstern, der schief an seiner Brust hing, und verließ den
Konferenzraum.
Lukas stand auf und
trat außer Sichtweite des Fensters. Dann nahm er Juliettes Hand und zog sie zur
Tür.
»Machst du Witze?«,
fragte sie. »Hast du wirklich gedacht, ich würde den Job einfach annehmen und …«
Lukas schloss die
Tür. Juliette sah ihn verwirrt an, dann spürte sie, wie seine Arme sich vorsichtig
um ihre Taille schlangen.
»Du hattest recht«,
flüsterte er. »Ich zögere den Abschied hinaus. Ich will nicht, dass du gehst.«
Sie spürte seinen
warmen Atem an ihrem Hals. Juliette entspannte sich. Sie vergaß, was sie hatte
sagen wollen. Sie schlang den Arm um ihn und legte ihm die andere Hand in den
Nacken. »Schon okay«, sagte sie, erleichtert, dass er es endlich ausgesprochen
hatte. Und sie merkte, dass er zitterte, dass sein Atem sich veränderte.
»Schon okay«,
flüsterte sie noch einmal, drückte ihre Wange an seine und versuchte, ihn zu
trösten. »Ich komme ja wieder.«
Und dann merkte sie,
als er sie an sich zog und seine Lippen sie berührten, dass er nicht vor Angst
oder Trauer zitterte. Er war nervös . Sie gab sich dem Kuss hin, und was
in ihrem Gehirn ausgeschüttet wurde, war besser als alles, was der Arzt ihr
gegeben hatte. Lukas trat einen Schritt zurück, hielt ihre Hand und sah nervös
zum Fenster.
»Das ist … hu …«
»Das war schön«,
sagte sie und drückte seine Hand.
»Wir sollten wohl …«
Er deutete mit dem Kinn zur Tür.
Juliette lächelte.
»Ja. Sollten wir.«
Er begleitete sie
durch die Eingangshalle der IT. Ein Techniker
wartete schon mit ihrer Schultertasche. Juliette sah, dass Lukas die
Trageriemen mit Stoffresten umwickelt hatte, damit sie nicht an ihren Wunden
scheuerten.
»Bist du dir sicher,
dass du keine Begleitung brauchst?«
»Ich komme schon
zurecht«, sagte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir sehen
uns in einer Woche.«
»Du kannst mich über
Funk erreichen«, sagte er.
Juliette lachte.
»Ich weiß.«
Sie nahm seine Hand
und drückte sie, dann wandte sie sich zur großen Treppe. Jemand nickte ihr zu.
Sie war sich sicher, dass sie den Mann nicht kannte, nickte aber zurück. Sie
griff nach dem langen, geschwungenen Stahlrohr, das sich durch das Herz des
Silos wand und die ausgetretenen Stufen zusammenhielt, auf denen ein Leben ums
andere gelebt wurde, und sie hob den
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