Silo: Roman (German Edition)
Menschen im Silo sehen, dass jemand, der zur Reinigung geschickt
worden ist, zurückkommt, dann hoffe ich, dass ihnen so einiges klar wird und
sie anschließend vielleicht die richtigen Leute unterstützen und die Kämpfe und
Schießereien überflüssig werden.«
Solo nickte. Er fing
an, die Klebestreifendecke zusammenzufalten, ohne dass sie ihn darum gebeten
hatte. Dieses kleine bisschen Eigeninitiative, dieses Bewusstsein für das, was
zu tun war, erfüllte Juliette mit Hoffnung. Vielleicht brauchte er diese
Kinder, vielleicht brauchte er jemanden, um den er sich kümmern konnte. Er
schien innerhalb von nur einem Tag um ein Dutzend Jahre gealtert zu sein.
»Ich komme dich und
die anderen holen«, sagte sie.
Er ließ den Kopf
sinken, hielt den Blick aber auf Juliette gerichtet. Er kam zu ihrer Werkbank,
legte die akkurat gefaltete Decke vor sie hin und klopfte zweimal darauf. Ein
kleines Lächeln erschien in seinem Bart, dann musste er sich abwenden und sich
an der Wange kratzen, als würde es dort jucken.
Da war er noch wie
ein Teenager, dachte Juliette. Er schämte sich, dass er weinen musste.
* * *
Sie
verbrachten fast vier von Lukas’ letzten Stunden damit, die schwere Ausrüstung
in den dritten Stock hinaufzuschaffen. Die Kinder halfen zwar, durften aber nur
bis ins vorletzte Stockwerk mit hinauf, weil Juliette sich Sorgen wegen der schlechten
Luft machte. Solo half ihr zum zweiten Mal innerhalb von nur zwei Tagen in den
Anzug.
»Versuch, dir keine
Sorgen zu machen«, sagte Juliette. »Was passiert, passiert. Ich muss es einfach
versuchen.«
Solo runzelte die
Stirn und kratzte sich am Kinn. Er nickte. »Du bist es gewohnt, unter vielen
Leuten zu sein«, sagte er. »Wahrscheinlich bist du drüben glücklicher.«
Juliette drückte ihm
mit einem ihrer dicken Handschuhe den Arm. »Es geht nicht darum, dass es mir
hier schlecht geht, sondern es würde mir schlecht gehen, wenn ich nicht
wenigstens versuchen würde, meinem Freund zu helfen.«
»Und ich hatte mich
gerade an dich gewöhnt.« Er beugte sich hinunter und hob ihren Helm auf.
Juliette überprüfte
ihre Handschuhe, versicherte sich, dass die Nahtstellen fest umwickelt waren.
Der Aufstieg die letzten Meter bis nach ganz oben würde anstrengend werden im
Schutzanzug. Und dann würde sie durch die Überreste all dieser Menschen im Büro
des Sheriffs müssen und durch die Luftschleuse. Sie nahm den Helm entgegen und
hatte Angst.
»Danke für alles«,
sagte sie. Sie hatte das Gefühl, als sei ihre Reinigung nur um ein paar Wochen
verschoben worden. Sie war Bernard entkommen, und nun tat sie sich aus freien
Stücken noch einmal an, wozu er sie damals verurteilt hatte.
Solo nickte und trat
um sie herum, um ihren Rücken zu überprüfen. Er klopfte auf die
Klettverschlüsse und zupfte an ihrem Kragen. »Du bist echt eine Gute«, sagte er
mit heiserer Stimme.
»Pass gut auf dich
auf, Solo.« Sie streckte die Hand aus und tätschelte ihm die Schulter. Den Helm
wollte sie noch ein Stockwerk in der Hand tragen und dann erst aufsetzen, um
nicht zu schnell ihre Luft zu verbrauchen.
»Jimmy«, sagte er.
»Ich glaube, ich möchte jetzt wieder Jimmy heißen.«
Er lächelte Juliette
an. Schüttelte traurig den Kopf, lächelte aber.
»Ich bin ja nicht
mehr allein.«
80. KAPITEL
Juliette
ließ die massive Tür der Luftschleuse hinter sich und schritt die Rampe hinauf,
sie ignorierte die Toten und konzentrierte sich einfach auf jeden Schritt, und
dann war das Schlimmste auch schon geschafft. Der Rest war offenes Land, nur
hier und da lagen noch menschliche Überreste, die sie sich nun zu gern als
Felsbrocken hätte darstellen lassen. Es fiel ihr nicht schwer, sich
zurechtzufinden. Sie wandte einfach der verfallenden Stadt den Rücken zu, auf
die sie beim letzten Mal zugegangen war, und lief in die entgegengesetzte
Richtung voran.
Auf dem Weg durch
die Landschaft kam ihr der Anblick der vielen Toten noch trauriger vor als beim
letzten Mal, noch tragischer, da sie das ehemalige Zuhause dieser Menschen
inzwischen selbst eine Weile bewohnt hatte. Sie bemühte sich, vorsichtig um die
Leichen herumzugehen, sie schritt mit der Feierlichkeit an ihnen vorbei, die
sie verdient hatten, und wünschte, sie könnte noch mehr für sie tun, als nur zu
trauern.
Irgendwann wurden es
weniger, und sie war allein mit der Landschaft. Sie stieg den Hügel hinauf, das
Prasseln des Sandes, der an ihren Helm geweht wurde, war ihr vertraut und
wirkte seltsam tröstlich. Dies war
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