Silver Linings (German Edition)
konfisziert, was ich zu Papier gebracht hatte, daher muss ich von vorn anfangen.)
Als ich schließlich aus dem Keller komme, sehe ich, dass sämtliche Fotos von Nikki und mir von den Wänden und dem Kaminsims entfernt wurden.
Ich frage meine Mutter, wo die Fotos hingekommen sind. Sie erzählt mir, dass vor einigen Wochen in unser Haus eingebrochen wurde und die Bilder gestohlen wurden. Ich frage, was ein Einbrecher mit Fotos von Nikki und mir würde anfangen wollen, und meine Mutter sagt, dass alle ihre Bilder in sehr teuren Rahmen sind. «Wieso hat der Einbrecher dann nicht auch die anderen Familienfotos geklaut?», frage ich. Mom sagt, der Einbrecher hat alle teuren Rahmen geklaut, aber sie hat von den Negativen der Familienporträts neue Abzüge machen lassen. «Wieso hast du dann von den Bildern von Nikki und mir keine neuen Abzüge machen lassen?», frage ich, und Mom sagt, sie hatte keine Negative von den Bildern von Nikki und mir, weil nämlich Nikkis Eltern die Hochzeitsfotos bezahlt hatten und meine Mutter nur Abzüge der Fotos bekam, die ihr gefielen. Nikki hatte Mom die anderen Nicht-Hochzeitsfotos von uns geschenkt, und na ja, im Augenblick haben wir keinen Kontakt zu Nikki oder ihrer Familie, weil ja Auszeit ist.
Ich sage meiner Mutter, falls der Einbrecher zurückkommt, würde ich ihm die Kniescheiben brechen und ihn halb totprügeln, und sie sagt: «Das kann ich mir gut vorstellen.»
Während meiner ersten Woche zu Hause unterhalten mein Vater und ich uns kein einziges Mal, was nicht verwunderlich ist, weil er ständig arbeitet. Er ist Bezirksleiter von sämtlichen Big-Foods-Filialen in South Jersey. Wenn Dad nicht im Büro ist, schließt er sich in seinem Arbeitszimmer ein und liest historische Romane, meistens über den Bürgerkrieg. Mom sagt, er braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen, dass ich wieder zu Hause bin. Die gebe ich ihm gern, vor allem, da ich sowieso ein bisschen Angst davor hab, mit Dad zu reden. Ich erinnere mich, wie er mich angeschrien hat, als er mich das einzige Mal an dem schlimmen Ort besuchte, und er sagte einige ziemlich garstige Dinge über Nikki und den Silberstreifen im Allgemeinen. Natürlich begegne ich Dad auf den Fluren unseres Hauses, aber er sieht mich nicht an, wenn wir aneinander vorbeilaufen.
Nikki liest gern, und da sie immer wollte, dass ich literarische Bücher lese, fang ich damit an, hauptsächlich, um mich an den Tischgesprächen beteiligen zu können, bei denen ich in der Vergangenheit immer geschwiegen habe – diesen Gesprächen mit Nikkis literarisch interessierten Freunden, alles Englischlehrer, die mich für einen ungebildeten Trottel halten − wie mich einer von Nikkis Freunden immer nennt, wenn ich ihn damit aufziehe, dass er so klein ist. «Wenigstens bin ich kein ungebildeter Trottel», sagt Phillip dann zu mir, und Nikki kriegt sich nicht mehr ein vor Lachen.
Mit ihrem Bibliotheksausweis leiht meine Mom Bücher für mich aus, seit ich zu Hause bin und lesen darf, was ich will, ohne mir vorher Dr. Timbers’ Erlaubnis zu holen, der übrigens ein Faschist ist, wenn es um Bücherverbote geht. Ich fange mit Der große Gatsby an, das ich in nur drei Nächten aushabe.
Der beste Teil ist das einleitende Essay, in dem es heißt, dass es in dem Roman hauptsächlich um die Zeit geht, die man nie zurückholen kann, was genau meinem Gefühl in Bezug auf meinen Körper und mein Fitnesstraining entspricht, aber andererseits habe ich auch das Gefühl, dass ich eine unbestimmte Anzahl von Tagen bis zu meiner zwangsläufigen Wiedervereinigung mit Nikki zur Verfügung habe.
Als ich die eigentliche Geschichte lese – wie sehr Gatsby Daisy liebt, dass er aber nie mit ihr zusammen sein kann, ganz gleich, wie sehr er sich anstrengt –, möchte ich das Buch am liebsten zerreißen und diesen Fitzgerald anrufen und ihm sagen, dass er mit seinem Buch völlig falschliegt, obwohl ich weiß, dass Fitzgerald vermutlich schon tot ist. Vor allem, wenn Gatsby in seinem Swimmingpool erschossen wird, als er das erste Mal überhaupt in jenem Sommer schwimmen geht, Daisy dann nicht mal zu seiner Beerdigung kommt, Nick und Jordan sich trennen und Daisy letztlich bei Tom, dem Rassisten, bleibt, dessen Bedürfnis nach Sex im Grunde genommen eine unschuldige Frau umbringt, da merkt man, dass Fitzgerald sich nie die Zeit genommen hat, die Wolken beim Sonnenuntergang zu betrachten, weil es am Ende dieses Buches nämlich keinen einzigen Silberstreifen am Horizont gibt.
Ich
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