Silver Linings (German Edition)
kann allerdings verstehen, dass Nikki den Roman mag, denn er ist richtig gut geschrieben. Aber gerade weil sie ihn mag, befürchte ich jetzt, dass sie nicht wirklich an den Silberstreifen glaubt, denn sie sagt, Der große Gatsby ist der großartigste Roman, den je ein Amerikaner geschrieben hat, und doch hat er ein so trauriges Ende. Eines ist jedenfalls sicher: Nikki wird sehr stolz auf mich sein, wenn ich ihr erzähle, dass ich endlich ihr Lieblingsbuch gelesen hab.
Noch eine Überraschung: Ich werde alle Romane lesen, die auf dem Unterrichtsplan für ihren Kurs über amerikanische Literatur stehen, nur um sie stolz zu machen, um ihr zu zeigen, dass ich mich wirklich dafür interessiere, was sie mag, und ich mich ernsthaft bemühe, unsere Ehe zu retten, vor allem, weil ich dann mit ihren angeberischen Literaturfreunden Konversation machen und so Sachen sagen kann wie: «Ich bin dreißig. Ich bin fünf Jahre zu alt, um mich selbst zu belügen und es Ehre zu nennen», was Nick am Ende von Fitzgeralds berühmtem Roman sagt. Der Spruch funktioniert auch bei mir, weil ich auch dreißig bin, und wenn ich ihn sage, werde ich ziemlich intelligent klingen. Wahrscheinlich plaudern wir gerade beim Abendessen, und die Anspielung wird Nikki ein Schmunzeln entlocken, und dann wird sie vor Erstaunen lachen, weil ich tatsächlich Der große Gatsby gelesen habe. Das gehört jedenfalls zu meinem Plan, diesen Spruch ganz lässig anzubringen, wenn sie am wenigsten damit rechnet, dass ich «Wissen raushaue» − um eine weitere Formulierung meines schwarzen Freundes Danny zu bemühen.
Gott, ich kann’s kaum erwarten.
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Er predigt keinen Pessimismus
Gegen Mittag wird mein Fitnesstraining unterbrochen, als Mom runter in den Keller kommt und sagt, dass ich einen Termin bei Dr. Patel habe. Ich frage, ob ich nicht am späten Nachmittag gehen kann, wenn ich mein tägliches Gewichthebepensum absolviert habe, aber Mom sagt, ich muss zurück an den schlimmen Ort in Baltimore, wenn ich meine Termine bei Dr. Patel nicht einhalte. Sie erwähnt sogar den Gerichtsbeschluss und sagt, ich kann die Akte lesen, wenn ich ihr nicht glaube.
Also gehe ich duschen, und dann fährt mich Mom zu Dr. Patels Praxis im Erdgeschoss eines großen Hauses in Voorhees, ganz in der Nähe der Haddonfield-Berlin Road.
Als wir dort ankommen, nehme ich im Wartezimmer Platz, während Mom noch mehr Papierkram ausfüllt. Mittlerweile mussten bestimmt zehn Bäume dran glauben, bloß damit meine psychische Verfassung dokumentiert wird, und das würde Nikki gar nicht gern hören, weil sie nämlich eine engagierte Umweltschützerin ist, die mir jedes Jahr zu Weihnachten mindestens einen Baum im Regenwald geschenkt hat – eigentlich war es bloß ein Blatt Papier, auf dem stand, dass mir der Baum gehörte. Jetzt habe ich ehrlich ein schlechtes Gewissen, weil ich mich über diese Geschenke lustig gemacht habe, und ich werde nie wieder über den schwindenden Regenwald witzeln, wenn Nikki zurückkommt.
Während ich dasitze, eine Sportzeitschrift durchblättere und das Easy-Listening -Gedudel ertrage, mit dem Dr. Patel sein Wartezimmer berieselt, höre ich plötzlich sexy Synthesizer-Akkorde, schwache Hi-Hats, den erotischen Puls der Basstrommel, das Klimpern von Feenstaub und dann das böse helle Sopransaxophon. Ihr kennt den Titel: Songbird . Und ich springe auf, schreie, trete gegen Stühle, kippe den Beistelltisch um, packe Zeitschriftenstapel und schleudere sie gegen die Wand, kreische: «Das ist nicht fair! Ich dulde keine solchen Tricks! Ich bin keine emotionale Laborratte!»
Und plötzlich steht ein kleiner Inder vor mir, der höchstens ein Meter zweiundfünfzig groß ist, mitten im August einen Strickpullover mit Zopfmuster, eine Anzughose und blitzweiße Tennisschuhe trägt und mich seelenruhig fragt, was los ist.
«Stellt die Musik ab!», schreie ich. «Abstellen! Sofort!»
Ich begreife, dass der kleine Mann Dr. Patel ist, denn er sagt seiner Sekretärin, sie soll das Radio ausschalten, und als sie es tut, verschwindet Kenny G aus meinem Kopf, und ich höre auf zu schreien.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht, damit mich keiner weinen sieht, und nach einem kurzen Moment fängt meine Mutter an, mir über den Rücken zu streicheln.
So viel Stille – und dann bittet Dr. Patel mich in sein Büro. Ich folge ihm widerstrebend, während Mom der Sekretärin hilft, das Chaos zu beseitigen, das ich angerichtet habe.
Sein Büro ist
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