Silver Moon
jeden Moment auftauchen konnte, saß mir im Nacken. Womöglich war er es sogar gewesen, der den Wolf angeschossen hatte. Unser Vater liebte Waffen und besaß sogar einen Waffenschein. Kein Tier war vor ihm sicher. Bedrückt sah ich in die braunen Augen des Wolfes. Etwas Weiches lag in seinem Blick, etwas, das mir jegliche Furcht vor ihm nahm.
»Wie sollen wir ihn zur Hütte bekommen? Der Ärmste kann ganz offensichtlich nicht mehr laufen!«
»Bleib bei ihm, ich hole das Feldbett aus dem Schuppen, damit müssten wir ihn transportieren können!«, erklärte Kai und verschwand. Wie gut, dass es meinen Bruder gab, denn alleine hätte ich in dieser Situation nicht viel ausrichten können. Mia war erst sechs Jahre alt und definitiv zu jung, aber sie konnte mir anderweitig helfen. »Mia, geh zurück ins Haus und wecke Nino, aber sage ihm nichts! Dann decke den Frühstückstisch! Mach alles genau so, wie ich es immer tue, Vater darf nichts bemerken! Wenn er aufsteht, muss alles so sein wie immer. Hast du verstanden?«
Eingeschüchtert nickte meine kleine Schwester und blickte mit ihren großen blauen Augen auf den am Boden liegenden Wolf. »Ich werde es versuchen. Hoffentlich wacht Vater nicht auf! Du kommst aber bald nach, Kira, ja?« Ich nickte und schloss sie in meine Arme.
»Hab keine Angst! Sollte Vater aufwachen, ehe ich zurück bin, sag ihm, ich repariere mit Kai die Einzäunung bei dem Hühnerstall, und jetzt geh bitte!« Mit verweinten Augen machte sie sich auf den Weg zurück zum Haus. Ich hätte sie gerne begleitet, aber Kai konnte den Wolf unmöglich alleine versorgen. Wir hatten schon zu zweit unsere Mühe, das stark blutende Tier auf das Feldbett zu heben. Kai befürchtete, dass er uns beißen könnte, aber eine innere Stimme sagte mir, dass der Wolf dies nicht tun würde. Überhaupt sah er nur optisch nach einem Wolf aus. Seine Ausstrahlung glich eher dem Wesen eines braven Hundes und ich fühlte mich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Meine Angst war gänzlich verschwunden, als wir durch das Dickicht des Waldes stapften, zu der Stelle, wo Kai heimlich eine kleine Hütte gebaut hatte. Dies war sein Versteck, sein Kleinod, von dem Vater nichts wusste. Hierher zog es ihn immer, wenn er wieder Ärger mit ihm hatte, und das war oft der Fall. Die Hütte, die aus Brettern und zwei kleinen Fenstern bestand, hatte Kai braun angestrichen und das Dach mit Laub bedeckt. Sie fügte sich in das Bild des Waldes, als wäre sie aus dem Boden gewachsen und nicht erbaut worden. Viele wilde Tiere tummelten sich hier, so auch Kais Reh, das ihn täglich um dieselbe Uhrzeit besuchte. Zudem hatten sich zwei braune, zahme Eichhörnchen gleich nebenan auf einem Baum einquartiert. Als wir an jenem Morgen ankamen, hörte ich schon von fern die Rufe eines Weißkopfseeadlers; es war King, Kais bester Freund.
Er drehte seine majestätischen Runden am Himmel über uns und fixierte einen Punkt, den er im Sturzflug anpeilte. Es war ein imposantes Schauspiel, als der mächtige Greifvogel nur Zentimeter neben uns auf der Brüstung der Hütte landete, um uns wohlwollend zu begrüßen. Sein Interesse schien heute allerdings dem Wolf zu gelten, er ließ ihn keine Sekunde aus seinen strahlend gelben Augen und folgte uns gar in die Hütte, um auf dem eigens für ihn errichteten Holzblock Platz zu nehmen.
»Hey, King, mein Bester – was denkst du, sollen wir mit dem Wolf machen? Glaubst du, er wird es überleben?«, wollte Kai wissen und wendete sich mit diesen Worten an den Adler. Ich wusste, dass Kai und der Vogel eine enge Bindung zueinander hatten, und heute zeigte es sich wieder ganz deutlich, denn King schien ihn zu verstehen. Er senkte fortwährend seinen Kopf, als würde er die Frage bejahen, und stieß dabei scharfe Rufe aus. Kai begann neben dem einzigen Bett in der Hütte ein Lager für den verwundeten Wolf zu errichten. Er schichtete alte Decken übereinander und wir legten den Wolf behutsam darauf.
»Bis hierher konnte ich dir helfen, aber jetzt bist du an der Reihe, Schwesterherz! Vielleicht bringt dir deine Ausbildung als Krankenschwester etwas, vielleicht wäre es aber auch besser gewesen, wir hätten ihn dem Gewehr von Vater überlassen!«
Kai hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Adler einen dohlenartigen hellen Schrei ausstieß – ganz offensichtlich war King anderer Meinung.
»Lass uns besser zurück zum Haus gehen, ihr müsst gleich zur Schule und wenn Vater etwas mitbekommt … Ich
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