Silver Moon
schriftliche Nachricht in der Hütte, mehr kann ich nicht tun, und jetzt geht; Mia, du auch!« Schweigend taten meine Geschwister, was ich von ihnen wollte. Ich wusste, dass sie meinen Anweisungen folgen würden, sie hörten generell auf mich, selbst Nino, unser Rebell. Nun, das Hören hatten wir gelernt, es war uns von Vater schon in der Wiege eingeprügelt worden. Für Widerworte setzte es Schläge, manchmal schon für viel weniger.
Als meine Geschwister in der Schule waren, ging ich der Hausarbeit nach – ich hatte mich um alles zu kümmern. Aber heute beeilte ich mich, da ich schnellstens zu der Hütte in den Wald zurückwollte, am besten noch, bevor Vater aufstand, um einer möglichen Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Ich überzog die restlichen Betten, tat die schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und räumte fix alles Liegengebliebene beiseite. Dann füllte ich literweise frisches Wasser ab, steckte die Flaschen ebenso wie eine leere Schale in meinen Rucksack, tat meine Ausrüstung mit dem Verbandsmaterial dazu und packte noch die Reste unseres gestrigen Bratens obendrauf, anschließend konnte mich nichts mehr halten und ich rannte in den Wald. Erst kurz vor der Hütte stoppte ich und ging die letzten paar Schritte langsamer. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinen Eingeweiden aus – was tat ich hier eigentlich? Mir ging es kurz durch den Kopf, dass es verrückt sei, mutterseelenallein in eine Hütte zu gehen, in der sich ein verwundeter Wolf befand. Während mir mein Verstand riet, sofort umzukehren, sagte mir mein Herz etwas ganz anderes! Ich folgte meinem Bauchgefühl und trat mutig ein.
Wie angewurzelt blieb ich auf der Türschwelle stehen, als mich der eindringliche Blick des Wolfes erhaschte. Er lag nicht mehr auf seinem Platz mit den vielen bunten Decken, stattdessen stand er in der Ecke und beobachtete mich akribisch. Ich wagte nicht zu atmen, geschweige denn mich zu bewegen. Mein Herz schlug so laut, dass mir der pochende Klang in den Ohren wehtat. Ich wusste, dass Hunde die Furcht der Menschen wittern konnten. Meinen Angstschweiß roch gerade jedes Tier meilenweit und erst recht dieser Wolf, der nur zwei Meter von mir entfernt war. Mein Blut tanzte brennend durch meine Adern, wie offenes Feuer im Wind. Ich sah mich vorsichtig nach einem Ausweg um, doch es schien hoffnungslos zu sein. Ich konnte die Türe zuschlagen und wegrennen, zu dumm nur, dass Kai stets ein Fenster für den Adler offen ließ, durch das auch der Wolf schlüpfen konnte, um mich zu verfolgen.
Allerdings war King noch da. Der Weißkopfseeadler saß seelenruhig auf seinem Block und sah mich ebenso eindringlich an wie der Wolf, der mich unaufhörlich fixierte. Ich glich einer Statue, stand felsenfest im Türrahmen und wagte mich nicht vor noch zurück. Zu allem Grauen begann der Wolf sich auch noch zu bewegen. Ganz vorsichtig kam er näher und meine Beine begannen zu zittern. Erst jetzt bemerkte ich, dass er humpelte, und seine Verletzung fiel mir wieder ein. Ich holte tief Luft und vermochte es nicht, meinen Blick von ihm zu lösen. Mit jedem Schritt, den er näher kam, rutschte mein Herz tiefer, bis er dicht vor mir stand, sich setzte und plötzlich anfing, meine Hand abzulecken. Im ersten Moment befürchtete ich, er würde zubeißen, doch er schien ganz zahm zu sein. Seine weiche Zunge liebkoste vorsichtig meinen Handrücken. Verblüfft sah ich in seine braunen Augen und fand darin eine Wärme, die mich nicht mehr losließ. Leicht berauscht stellte ich meinen Rucksack ab und begab mich in die Hocke, auf seine Höhe, um ihn zu streicheln. Meine Angst verflog ein zweites Mal, als hätte es sie nie gegeben, als wäre dieses wilde Tier ein vertrautes, geliebtes Wesen. Ich verstand mich selbst nicht mehr, als meine Finger fortwährend durch seinen flauschigen Pelz fuhren.
In unserer Familie war es Kai, der seine Tierliebe nie verschwieg und sie in allen Formen auslebte. Ich hingegen hatte mich zwar immer um kranke Menschen bemüht, aber ein Tiernarr war ich nie gewesen. Umso mehr erstaunte mich die Vertrautheit, die in diesen Sekunden zwischen mir und dem Wolf wuchs. Während meine Hände behutsam durch sein dichtes Fell kraulten und beständig über seinen kräftigen Buckel streichelten, legte er seinen Kopf auf meine Schulter. Wir genossen beide die Zweisamkeit und Stille, die uns einhüllte. Doch plötzlich fühlte ich etwas Feuchtes an meiner Hand und bemerkte, dass es sein Blut war … Er blutete noch
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