Blutiger Klee: Roman (German Edition)
I
Die Hitze lag wie ein Summen von
Millionen Mücken über dem See und den Bergen. Zitronenfalter kreiselten um die weißen
Blüten einer Taubnessel. Wilder Salbei und Brennnesselstauden säumten den Weg, Heckenrosen
leuchteten rot durch das Gehölz. Die Luft war erfüllt vom Duft der Kräuter, die
die meisten Wanderer bloß für Unkraut hielten. Aber sie wusste es besser. Beinwell
half gegen Entzündungen, Spitzwegerich gegen Husten. In ihrem Alter wusste sie vieles
besser, so vieles hätte sie erzählen und aufklären können, aber keiner fragte sie
danach. Die Jungen im Dorf starrten auf die flimmernden Bildschirme ihrer Computer
so wie die Menschen früher auf den Himmel, der bei Fronleichnamsprozessionen durch
den Ort getragen wurde. Und sie hielten verblüffenderweise für wahr, was ihnen das
Flimmern verkündete. »Für ›Guggl‹ bist du der gläserne Mensch, Tante Kathi, die
wissen alles über dich.« Das hatte ihre Lieblingsnichte Anna schmunzelnd zu ihr
gesagt, als ob das eine wunderbare Sache sei, und sie hatte mitgelacht – obwohl
sie keine Ahnung hatte, wer diese ›Guggl‹ waren. Doch es tat gut, mit den Jungen
zu feixen, selten genug ergab sich die Gelegenheit dazu. Mit dem Alter war das Unsichtbarwerden
gekommen, wie eine Krankheit, über die man besser nicht spricht. Aber manchmal erhaschte
sie einen Blick oder ein Lächeln, das ihr bestätigte, dass sie ja doch noch da war
und dazugehörte.
Der Weg
bog ein letztes Mal um eine scharfe Kurve, ehe das Dach der Kapelle endlich zwischen
dem Grün der Linden aufblinken würde. Sie blieb stehen, schwer atmend, und blickte
hinunter auf den See und die Ortschaften, die sein Ufer säumten. Ein Ausflugsdampfer
passierte gerade die schmalste Stelle, die das Wasser wie eine Sanduhr einschnürte.
Segelboote glitten dahin, Gelächter und das Jauchzen von Kindern wurden vom Wind
bis zu ihrer Anhöhe hinaufgeweht. Und der Gestank von Jauche, die der Loibner gerade
aus einem Tankwagen über seine Felder versprühte. Die Touristen und auch die meisten
Einheimischen rümpften über den Gestank die Nase, im Gemeinderat war sogar über
ein Düngeverbot gestritten worden, aber sie sog den Geruch ein wie den Duft von
Weihrauch und Kerzen in der Kirche. Gleich würde es Zwölf läuten, dann begann drunten
in den winkeligen Gassen der Wettlauf um einen Tisch in den Gastgärten, am besten
unter einem schattigen Kastanienbaum. Touristen kamen das ganze Jahr über an den
See, auf den Spuren von Mozart und Operettenseligkeit, aber in den Sommermonaten
nahm der Ansturm geradezu beängstigende Ausmaße an. Japaner und Amerikaner, Deutsche
und Holländer, Italiener und Franzosen schoben sich dann an Auslagen, vollgestopft
mit Kuckucksuhren und Lebkuchenherzen, vorbei, über die Wirtshaustische wurden rot-weiß-rot
karierte Tücher gebreitet, und die Serviererinnen zwängten sich trotz der Hitze
in Dirndlmieder mit tief dekolletierten Rüschenblusen. Jedes Jahr von Mai bis September
wölbte sich dann der Himmel über dem See wie über einem riesigen Bühnenbild, das
die tröstliche Ahnung einer heilen Welt versprach. Sound of music, Zauberflöte,
Apfelstrudel – oh, how lovely!
Aber sie
wusste es besser. Sie stützte die Hände gegen ihr schmerzendes Kreuz und sah zur
gegenüberliegenden Hügelkette, wo sich das Sonnenlicht in den blank geputzten Fenstern
eines Anwesens spiegelte. Dort drüben hatte der Vinzenz gehaust mit seinen Töchtern,
die Frau war ihm im Wochenbett gestorben. Die Töchter wurden nur selten in der Schule
gesehen, aber bekamen fast jedes Jahr ein Kind, als sie noch selbst beinahe Kinder
waren. Alle hatten sich ihren Teil gedacht, aber niemand hatte nachgefragt oder
war den Mädchen zu Hilfe gekommen. Solche Dinge geschahen eben, damals, auf den
entlegenen Höfen, die der Schnee bis weit hinein ins Frühjahr vom Rest der Welt
abschnitt. Die Säuglinge waren dann auch fast alle gestorben, an Durchfall und Fieber
oder Lungenentzündung, niemand hatte Genaueres wissen wollen, auch der alte Doktor
nicht.
Sie schirmte
ihre Augen mit der Hand gegen das grelle Mittagslicht ab. Aus dem verwahrlosten
Gehöft vom Vinzenz war eine Jausenstation geworden, die von der Katja peinlich sauber
geführt wurde. Die Katja hatte als einzige von der Sippe überlebt, irgendwie, und
sich zum stillen Staunen des ganzen Ortes tadellos herausgemacht. Was der Pfarrer
wohl ins Taufbuch eingetragen hatte? Vater unbekannt, was sonst. Die Männer verschwanden
im Dunst der
Weitere Kostenlose Bücher