Singularität
Frost
hatte die Fensterscheiben mit Raureif überzogen. Um nicht auf
den kalten Holzfußboden treten zu müssen, streifte er
sofort seine Filzlatschen über, zog den Nachttopf heraus und
hockte sich nieder. Danach holte er die ausgekühlten Klamotten
von der Leine, die innerhalb des Himmelbetts gespannt war, zog sich
an und ging in den Keller hinunter, um den Kohlebrenner zu
inspizieren, der immer noch glühte. Zusätzliche
Peltier-Elemente erzeugten Energie für die kleine Fabrikanlage,
sodass sie auch über Nacht »auf Sparflamme« laufen
konnte. Jetzt musste er nur noch Wasser holen und den Kessel
aufsetzen, dann würden sie gleich Kaffee haben – ein
wunderbarer Luxus, auch wenn es nur vom Füllhorn produzierter
Ersatzkaffee war. Vielleicht würde die geothermische Pumpe in
ein, zwei Wochen für etwas mehr Wärme sorgen. Doch derzeit
war angesichts des schneidend kalten Steppenwinters schon jede
Temperatur über dem Gefrierpunkt ein wahrer Segen.
Inzwischen war auch Rachel aufgestanden, der Fußboden
ächzte unter ihren Schritten. Während sie ihr Hemd und die
Unterröcke überstreifte, gähnte sie herzhaft. Martin
stapfte wieder nach unten, um mit dem Schürhaken die Asche aus
dem Ofen zu kratzen und ein neues Feuer zu entzünden. Heute
Vormittag ist doch Markt, stimmt’s? Da kommen sicher viele
Bauern hin, vielleicht können wir einiges verkaufen oder mit
ihnen tauschen. Gleich darauf hätte er sich fast selbst
gezwickt. Du meine Güte, was denke ich da? Was ist nur aus
mir geworden?!
Während er die kalte Asche hinter dem Feuerrost herauskratzte
und sie in einen Zinneimer kippte, raschelte etwas in seinem
Rücken. Als er sich umsah, merkte er, dass sich Rachel zum
Ausgehen fertig gemacht hatte: Das weit geschnittene braune Kleid
reichte ihr bis zu den Stiefelsohlen, und die Haare hatte sie, streng
zurückgebunden, unter einem Kopftuch versteckt, das unter ihrem
Kinn verknotet war, wie es hier üblich war. Nur ihr Gesicht war
unbedeckt. »Gehst du aus?«, fragte er.
»Heute ist Markt. Ich will etwas Brot kaufen, vielleicht auch
ein, zwei Hühnchen. Wenn wir noch länger damit warten,
werden sie nicht mehr so leicht zu bekommen sein.« Sie wandte
den Blick ab. »Brrr, kalt heute, findest du nicht?«
»Bis du zurück bist, müsste es eigentlich warm hier
drinnen sein.« Er legte die letzten Kohlenstücke auf den
Rost und vollführte ein kleines, wohl vertrautes
Zauberkunststück. Gleich darauf sprang eine Flamme auf, die
hungrig über die Kohle züngelte. »Heute müsste
der Verkauf eigentlich blühen«, sagte er, während er
dem Ofen den Rücken zuwandte. »Falls du Geld
brauchst…«
»Ich hol mir was aus der Ladenkasse.« Als sie sich an
ihn lehnte, schlang er die Arme um sie. Wie beruhigend solide sie
in der Verkleidung der Ehefrau eines örtlichen Handwerkers
wirkte. Die Art, wie sie ihr Kinn auf seine Schulter
stützte, verriet große Vertrautheit.
»Du siehst heute Morgen gut aus, wirklich toll.«
Sie lächelte leicht und zitterte dabei vor Kälte.
»Alter Schmeichler. Ich frage mich, wie lange wir hier noch
bleiben können.«
»Bleiben können oder bleiben müssen?«
»Hm.« Sie dachte kurz nach. »Geht’s dir schon
auf die Nerven?«
»Ja, ein bisschen schon.« Er kicherte leise. »Heute
Morgen, beim Säubern des Kohlenrosts, hab ich mich dabei
ertappt, wie ich mir tatsächlich die Gedanken eines
Ladeninhabers machte. Es wäre wirklich leicht, sich bestimmte
Gewohnheiten zuzulegen und in ein alltägliches Leben zu
schlüpfen. Wie lange geht das jetzt schon mit dem ruhigen Leben?
Acht Monate? Ich hab schon fast vor Augen, wie wir uns hier
endgültig niederlassen, eine Familie gründen und uns dem
großen Vergessen anheim geben.«
»Das würde nicht klappen.« Als sie sich unter
seinen Händen verkrampfte, massierte er ihre Schultern.
»Wir würden nicht auf die richtige Weise altern. Im neuen
Jahr werden sich die Leute hier wieder dem Reiseverkehr öffnen,
und dann… na ja. Außerdem hab ich bereits Kinder
großgezogen. Es würde nicht klappen, glaub mir. Sei froh
über die Vasektomie, du kannst sie irgendwann ja auch wieder
rückgängig machen. Hast du dir schon mal ausgemalt, wie es
wäre, mit einem Baby im Schlepptau fliehen zu
müssen?«
»Oh, das alles ist mir durchaus klar.« Er ließ
seine Hände weiter in kleinen Kreisen über ihre Schultern
gleiten, bis sie sich leicht entspannte. Der Stoff unter seinen
Fingerspitzen war dick, mehrere Schichten dick, als Schutz vor der
Kälte.
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