Sinnliche Maskerade
mit einem kurzen Lächeln, überließ sie ihren Papieren und Büchern und kehrte in die geschäftige Halle zurück.
Eine ganze Weile saß Alexandra an ihrem Schreibtisch und starrte mit leerem Blick ins Zimmer. Sie war nervös, unruhig, fühlte sich unbehaglich. War ängstlich besorgt, dass sie in ihrer Freude, ihre Leidenschaft zu teilen, irgendetwas hatte durchblicken lassen. Und was für eine Freude es gewesen war! Noch immer konnte sie seinen Körper spüren, als er so dicht neben ihr gestanden und sie beide die Seiten umgeblättert hatten. Noch immer konnte sie den schwachen Lavendelduft seines Hemdes spüren, den Hauch frischen Schweißes auf seiner Haut, die Frische des Morgens auf seinen Wangen.
Süßer Himmel, nie im Leben hatte sie es für möglich gehalten, dass es so schwierig sein könnte, eine Scharade aufrechtzuerhalten. Und das war es auch nicht gewesen - bis der Honorable Peregrine Sullivan ins Haus gekommen war.
Viele der Schwierigkeiten, die dieses Spiel mit sich bringen würde, hatte sie vorhergesehen, und geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein. Nur eins hatte sie nicht bedacht: die Einsamkeit. Nie konnte sie ihren Schutz lange genug sinken lassen, um sich auf sinnvolle Gespräche mit den Menschen in ihrer Umgebung einzulassen. Alles musste oberflächlich bleiben; nur die allerbanalsten Unterhaltungen durfte sie sich erlauben, nur solche, die nichts über sie selbst preisgaben, noch nicht einmal ihre Vorlieben oder Abneigungen. Mit dem Ergebnis, dass sie sich fühlte, als ob sie in einer einsamen Umzäunung lebte, wie gefangen in ihrem eigenen Kopf.
Sie vermisste Sylvia schrecklich. Seit frühester Kindheit waren sie und ihre Schwester unzertrennlich gewesen. Der Alters-unterschied betrug nur elf Monate; in vielerlei Hinsicht waren sie eher Zwillinge als normale Geschwister. Ihre Mutter hatte ihnen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, selbst wenn sie sich auf dem Anwesen aufhielt. Schon bald nach Sylvias Geburt hatte sie mit ihren romantischen Eskapaden begonnen, die damit geendet hatten, dass sie mit einem mysteriösen italienischen Grafen durchbrannte.
Lebhaft erinnerte Alexandra sich an einen Streit zwischen ihren Eltern, den sie kurz nach Sylvias neuntem Geburtstag mit angehört hatte. Gerade war ihre Mutter nach dreimonatiger Abwesenheit zurückgekehrt, wie immer beladen mit Geschenken für ihre »kostbaren Mädchen«, wie sie ihre Töchter zu nennen pflegte. Diesmal hatte ihr Ehemann sie mit unverhohlenem Zorn empfangen statt mit der üblichen offenkundigen Gleichgültigkeit.
Alex hatte es sich in ihrer Ecke auf dem Sofa in der Bibliothek gemütlich gemacht und kämpfte sich mit einem Buch mit lateinischen Versen ab. Anfangs hatte sie ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie ihre Eltern belauschte; aber dann hatten die Stimmen sich erhoben. Wütende, verletzende Worte waren wie Wespen durch das gewöhnlich stille Zimmer gebrummt. Sie war innerlich alarmiert gewesen und auch voller Angst, dass sie entdeckt werden könnte.
Ihre Mutter hatte klargemacht, dass sie das besinnliche Leben auf dem Lande nicht ertragen konnte und dass sie sich strikt weigerte, noch einmal schwanger zu werden - schließlich hätten Schwangerschaft und Geburt ihr beinahe den Körper ruiniert. Sie brauchte die Aufmerksamkeit, die sie noch immer erregen konnte, und wer wollte ihr das Recht streitig machen, sich das zu nehmen, was das Leben ihr bot? Sie war immer noch in der
Lage, einen Mann in Feuer und Flamme zu versetzen, und niemand konnte ihr vorwerfen, dass sie ihre Gaben zu ihrem Vorteil einsetzte, da ihr Ehemann ja keinerlei Interesse an ihnen hegte. Denn er wollte nichts als eine Zuchtstute samt Haushälterin, während sie nicht daran interessiert war, ihm in der einen oder anderen Hinsicht zu Diensten zu sein.
All das hatte Alex damals noch nicht ganz begriffen - wohl aber, dass Sylvia und sie irgendwie für die häufigen Abwesenheiten ihrer Mutter und die wachsende Distanz ihres Vaters verantwortlich gewesen sein sollten. Das war der Augenblick gewesen, an dem sie und ihre Schwester alles füreinander geworden waren - Heimlichkeiten, Hoffnungen und Ängste miteinander geteilt und nur aufeinander vertraut hatten.
Seufzend griff Alexandra nach ihrer Feder. Ihr war zu Ohren gekommen, dass Menschen, die einen Arm oder ein Bein verloren hatten, manchmal so etwas wie Phantomschmerz empfanden. Dass ihre Schwester nicht mehr zu ihrem Alltag gehörte, fühlte sich genauso an. Gelegentlich drehte sie sich um, wie
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