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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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1
    Eine Freundin wie Rebekka Liebich würde ich nie wieder finden. Sie zog ihre Stirn in Falten, klemmte die Zungenspitze zwischen die Lippen und peilte kaltblütig die Kuppe ihres linken Mittelfingers an. Ich sah sie zögern, wenigstens für einen Augenblick. Dann stach sie zu.
    Oh Gott, dachte ich. Jetzt bin ich dran!
    Für meine Mutter gehörte es zu den unumstößlichen Regeln des Zusammenlebens, dass es unter Freundinnen eine geben musste, die voranging – die führte , hatte Mamu zunächst sagen wollen, sich dann aber mitten im Wort eines Besseren besonnen, da nichts, was sich von Führer ableitete, in meiner Familie noch in den Mund genommen wurde. Selbst seinen Namen sprachen wir nicht aus. Für uns war er nur der Fü.
    Und zweifellos war meine Mutter, seit sie laufen konnte, diejenige, der alle anderen hinterherzurennen hatten – erst ihre Freundinnen, dann Papa und ich. Aber schon im Kindergarten hatte es in Bekkas und meinem Fall leider begonnen, sich genau andersherum zu entwickeln.
    Wenn Bekka voranging, kam man höchstens durch einen glücklichen Zufall noch aus der Sache heraus. Beim letzten Mal, als Bekka vorangegangen war, hatte mich einzig das Auftauchen der alten Keifziege Bergmann davor bewahrt, aus dem dritten Stock in einen Baum zu springen. Ich hatte keine Ahnung, was – ohne Bekka – von morgen an aus mir werden sollte.
    »Nun bring’s schon hinter dich!«, forderte meine Freundin mich auf. »Oder soll ich …?«
    Ich streckte die Hand aus und mit aufmunterndem Nicken legte sie das Messer hinein. An der Spitze schien noch ein Tröpfchen ihres Blutes zu kleben, ein Anblick, der mir geradewegs in die Knie fuhr. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass Bekkas Mutter, die sanfte Frau Liebich, so verantwortungslos war, ein spitzes Messer in Reichweite ihrer Tochter herumliegen zu lassen! Sie schien keinen Schimmer zu haben, wozu diese imstande war. Was in der Konsequenz nichts anderes bedeutete, als dass sie auch nicht auf den vernünftigen Gedanken kommen konnte, ab und zu kontrollhalber ihre Nase durch die Tür zu stecken.
    Dabei war die Tür nur angelehnt. Ich hörte die leisen Stimmen der Erwachsenen aus dem Wohnzimmer – die der Liebichs und die meiner eigenen Eltern, schließlich war es auch ihr letzter Abend. Aber weit und breit kein Beistand in Sicht.
    »Ich finde die Methode der alten Germanen gut genug«, machte ich einen letzten schwachen Versuch, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
    Bekka seufzte. »Wir sind aber keine Germanen, Ziska.«
    »Bin ich ein Vampir?«, protestierte ich.
    Bekka lehnte sich geduldig zurück, ihren Mittelfinger, auf dem eine Blutperle glänzte, abwartend in die Luft gestreckt. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie sich das Reden sparen konnte, da ihre Freundin Ziska über kurz oder lang kapitulieren würde. Hatte sie schließlich immer, oder etwa nicht?
    Zum ersten Mal streifte mich der Gedanke, wie Bekka mich in Erinnerung behalten würde – und welch beunruhigendes Licht es auf unsere Freundschaft warf, dass weder sie noch ich unsere Trennung auch nur ein einziges Mal infrage gestellt hatten. Wir beide hatten zu viele andere gehen sehen, um nicht längst begriffen zu haben, dass es nicht mehr um das Ob ging, sondern nur noch um das Wer, Wann und Wohin . Und dennoch: Hätte nicht eine von uns wenigstens Schade sagen müssen?
    Plötzlich konnte ich vor mir sehen, wie Bekka schon übermorgen nicht mehr an mich denken würde. Wie sie vorangehen würde ohne einen einzigen Blick zurück, konzentriert auf das, was als Nächstes kam, und als hätte es nie eine Ziska in ihrem Leben gegeben. Wenn ich fort war, würde auch Bekka nicht lange bleiben; sie und ihr Bruder Thomas standen auf der Warteliste für einen Kindertransport nach England und planten ihre Eltern nachzuholen.
    Es war typisch für Bekka, bereits einen Plan zu haben. Meine und Mamus Aufmerksamkeit war in den letzten Wochen ausschließlich darauf konzentriert gewesen, Ausreisepapiere zu organisieren und Papa zurückzubekommen, und erst jetzt, da der Dampfer praktisch abfahrbereit am Kai stand, fiel mir auf, dass über unserer Zukunft nichts mehr stand außer einem großen Fragezeichen.
    Meine Augen spiegelten sich in der Messerklinge, ich sah aus wie ein erschrockener Frosch. »Ich zähle von fünf rückwärts«, bot Bekka an.
    Blutsschwestern, hatte sie gesagt. Dass die Germanenmethode, unser Blut durch das Kreuzen der geritzten Arme zu vermischen, sie sowieso nicht überzeugte. Dass wir, wenn

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