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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Papademetriou
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hypnotische Wirkung auf ihn ausübte.
    Am Fußende schnarchte Guernsey friedlich vor sich hin. Will strich ihr behutsam über das grauschwarze Fell, um sie nicht aufzuwecken. Schlaf nur weiter, altes Mädchen, sagte er in Gedanken, als die Labradorhündin im Traum leicht zuckte.
    Wills Zimmer befand sich direkt über der Küche, von wo aus nun die tiefen Stimmen seines Vaters und seines Onkels zu ihm heraufdrangen. Als kleines Kind hatte Will es stets als behaglich empfunden, zu hören, wie die Erwachsenen sich unterhielten. Tims Interesse galt vor allem den Themen der elterlichen Gespräche, Will hingegen lauschte lieber dem Klang ihrer Stimmen, beruhigend wie das sanfte Meeresrauschen, als dass er auf die Worte achtgab. Heute wollte ihm das allerdings nicht recht gelingen, denn sie redeten über ihn.
    »Du hättest ihn mal sehen sollen.« Carl stieß einen Seufzer aus. Vor seinem geistigen Auge sah Will ihn an dem alten Holztisch sitzen und einen Flasche des alkoholfreien Biers leeren, das Wills Vater immer im Kühlschrank für ihn bereithielt.
    Sein Onkel hatte gewartet, bis Wills Mutter zu Bett gegangen war, bevor er den Vorfall am Strand erwähnte.
    Carl ist wirklich ein kluger Mann, dachte Will. Mom wäre mit Sicherheit ausgerastet.
    »Er … Bert, um ehrlich zu sein, sah er aus, als wäre er nicht ganz bei Sinnen.«
    Wills Vater sog scharf die Luft ein. »Das Datum würde passen.«
    »Nächste Woche. Ich weiß.« Mit einem leisen Klirren stellte er die Bierflasche auf dem Tisch ab.
    Nächste Woche. Will war überrascht, dass seitdem bereits ein Jahr vergangen war. Aber natürlich musste es so sein. Schließlich war jetzt Ende Juni, oder?
    Er fand es beängstigend, wie selten ihm Gedanken an jene Nacht kamen, in der sein Bruder gestorben war. Anfangs noch hatte er an nichts anderes denken können, hatte Tag und Nacht versucht, sich Einzelheiten des Geschehenen ins Gedächtnis zu rufen. Hatte mit jedem darüber gesprochen, der gewillt war zuzuhören, stets in der Hoffnung, dass die Ereignisse jener Nacht irgendeinen Sinn ergeben würden. Will konnte sich noch daran erinnern, dass er und Tim bei Sonnenuntergang mit dem Segelboot hinausgefahren waren. Daran war zunächst einmal nichts Ungewöhnliches. Außer, dass Tim nie von ihrem gemeinsamen Ausflug zurückgekehrt war. Im Gegensatz zu Will. Die Polizei hatte ihn bewusstlos am Strand gefunden, klitschnass und mit blutüberströmtem Gesicht. Niemand konnte sich erklären, wie er dorthin gelangt war. Und niemand hatte eine Idee, was Tim zugestoßen sein könnte.
    Irgendwann hörten die Leute dann auf, Will zuzuhören. Sie blieben zwar weiterhin bei ihm sitzen, wenn er erzählte, doch huschte ihr Blick immer wieder zur Uhr und ihr Gesichtsausdruck verriet ihre innere Abwesenheit. Will sah ihnen deutlich an, dass sie ihm die gähnende Leere in seinem Gedächtnis nicht abnahmen. An irgendetwas musste er sich doch erinnern, sagten sie dann. An irgendetwas. Dem war jedoch nicht so – Will wusste nichts von dieser Nacht.
    Warum hat man mich gefunden, aber nicht Tim?
    Auf diese Frage gab es keine Antwort.
    Mit lautem Wehklagen heulte der Wind durch die Bäume. Es war bereits dunkel, doch Will konnte sehen, wie sich die Äste bei jedem Windstoß bogen. Er fragte sich, wie viele Bäume wohl am nächsten Morgen entwurzelt daliegen würden.
    »Und kein Wort zu Evelyn«, sagte Wills Vater gerade.
    »Natürlich nicht. Es ist nur … ich weiß nicht recht, Bert. Vielleicht war da ja tatsächlich ein Mädchen. Nur …«
    »Bei dem Sturm?«, fragte Wills Vater zweifelnd.
    »Ich hab da draußen jedenfalls nichts gesehen.«
    »Weil es nichts zu sehen gab. « Schweigen. »In ein paar Wochen wird es ihm wieder besser gehen. Dieser Todestag macht uns allen zu schaffen.«
    »Ja, das stimmt.«
    Will lag auf dem Rücken und spürte noch immer das Auf und Ab der Wellen. Er sah noch immer das Mädchen vor sich. Wie die Wogen über ihr zusammenbrachen, um sie zu verschlingen. Sie hatte so echt gewirkt.
    Er stand auf und ging ins Badezimmer. Das flackernde Neonlicht verlieh seinem Gesicht eine ungesunde grünliche Farbe.
    Und was, wenn ich doch verrückt bin?, dachte er und starrte sein Gegenüber im Spiegel an.
    Er würde sich nie an die blassviolette Narbe gewöhnen können, die quer über seine Stirn und oberhalb seiner Wange verlief. Meistens war sie von seinen strohblonden Haaren verdeckt, doch es kam vor, dass der Wind sie entblößte und ein Fußgänger ihn anstarrte. In solchen

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