Sittenlehre
es gelingt, daß alle Schüler ruhig und zugleich mit der gebotenen Eile die Schule in entgegengesetzter Richtung verlassen, sollte es keine weiteren Probleme geben, und beklagenswerte Vorfälle irgendwelcher Art sollten sich dadurch ebenfalls vermeiden lassen.«
Der Vizerektor legt eine Pause ein. Zwischen den Mauern des Colegio, die nicht weniger kompakt sind als die Geschichte, die sie umschließen, herrscht völliges Schweigen.
»Noch irgendwelche Fragen?«
Keinerlei Fragen. Für alle Fälle wartet der Vizerektor noch einen Moment ab, vielleicht kommt ja doch eine Frage – wie er unterstreicht, indem er mit der Hand die glatte Wölbung des wenig konturierten Kinns nachfährt. Seine Erwartung ist eigentlich nicht, daß noch jemand eine Frage stellt, sondern daß niemand mehr eine Frage stellt. Und es stellt auch niemand eine Frage.
»Keine Fragen also. Sehr gut. Dann tun Sie, wie Ihnen gesagt wurde. Guten Tag.«
Die zehnte Obertertia hat gerade Latein, es ist die letzte Schulstunde des Tages. Auf dem Programm steht Skandieren – als ein lustloser Chor, der nie richtig zusammenfindet, intonieren die Schüler stockend die rhythmischen Verse dieser buchstäblich toten Sprache. Der Beitrag des Lehrers – Herr Schulz – besteht darin, daß er mit zwei Fingern an die Pultkante klopft, um das Tempo vorzugeben, aber auch das hilft nichts, oder nicht genug: Striche stehen für lange Silben, Us für kurze, doch so einfach diese Regeln für den lauten mündlichen Vortrag einem vorkommen können, es scheint ausgeschlossen, daß der monotoneSprechgesang der zehnten Obertertia – María Teresa, die vom Flur aus zuhört, fühlt sich an die Morgen ihrer Kindheit in der Gemeinde von Villa del Parque erinnert – auch nur einigermaßen zusammenstimmt. Über das krampfhafte Bemühen um einen ausgeglichenen Klang, der zugleich etwas von gregorianischem Gesang hat, geht die Bedeutung der Verse völlig verloren. Niemandem, vielleicht nicht einmal Herrn Schulz, ist noch bewußt, daß Dido bei alledem die zentrale Rolle spielt und daß Äneas hinter Dido her ist.
Es läutet, der Schultag ist zu Ende. Vor dem Verlassen der Klassenräume erfolgt jedoch der Fahnenappell. Das Einholen der Nationalflagge ist genaugenommen Aufgabe der Schüler der Oberprima, die zu diesem Zweck im Mittelgang des Colegio antreten; die Schüler der übrigen Klassenstufen verbleiben derweil in ihren Räumen und nehmen nicht unmittelbar an dem Ritual teil, dennoch wissen sie, daß es in ebendiesem Moment stattfindet, und dieses Wissen reicht aus, damit sie ihrerseits an der feierlichen Zeremonie teilhaben. Die über das gesamte Colegio verteilten Lautsprecher, aus denen während der Pausen klassische Musik ertönt, lassen nun die Melodie eines vaterländischen Liedes anklingen. Das Lied trägt den Titel »Aurora«. Neben den Pulten stehend, den Blick nach vorne gerichtet, von wo aus die Aufseher sie beobachten, singen die Schüler des Colegio.
»Es ist die Fahne! Meiner Heimat! Der Sonn’ entsprungen! Von Gott gegeben! Es ist die Fahne! Meiner Heimat! Der Sonn’ entsprungen! Von Gott gegeben!«
Heute geht es nicht durch den Ausgang zur Calle Bolívar hinaus. Herr Biasutto übernimmt die Koordination der Aufseher, die ihrerseits seine Anweisungen bereitsan die Schüler weitergeleitet haben, so daß die geordnete Durchführung eines Vorgangs gewährleistet ist, der nicht dem gewohnten Ritual entspricht. María Teresa, die Aufseherin der zehnten Obertertia, ist nervös, läßt sich ihre Nervosität aber nicht anmerken. An der Tür stehend wartet sie auf ihren Einsatz. Klasse um Klasse verläßt ihren Raum. Die siebte, achte, neunte Obertertia. Jetzt ist sie an der Reihe.
»Mir nach«, sagt Herr Biasutto.
Zunächst gehen sie den gleichen Weg wie immer. Bis zur großen weißen Marmortreppe, die ins Erdgeschoß führt, ist alles unverändert. Sobald sie sich vom Fuß der Treppe entfernen, gehen sie aber nicht weiter geradeaus wie sonst, in Richtung Eingangshalle, sondern wenden sich zur Seite, wo die Treppe ins Untergeschoß anfängt. Diese ist schmaler und weniger hell. María Teresa betritt sie zum erstenmal. Im Tiefgeschoß befinden sich ein Turnsaal, der Musiksaal, der Speiseraum für die Schüler, das Schwimmbecken und ein kleiner Filmvorführraum. Irgendwo im Tiefgeschoß, womöglich hinter dem Turnsaal oder in einer kleinen Diele, zu der man vom Filmvorführraum aus gelangt, sollen sich angeblich die Zugänge zu mehreren Geheimgängen aus der
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