Sittenlehre
Schon im Fortgehen begriffen, bleibt der Studienleiter stehen. Verharrt eine Weile. Er kehrt der Klasse den Rücken zu, doch auch so sieht jeder vor sich, wie seine Augenbraue zuckt. Er wartet noch eine Sekunde ab. Aber nicht, weil er zögert, er kann es nur einfach nicht glauben. Dann dreht der Studienleiter sich um, macht auf der Stelle kehrt, betritt erneut das Klassenzimmer. Wieder stellt er sich ans Pult, von wo aus man die gesamte Klasse so gut im Blick hat. Er verschränkt die Hände. Einer seiner Finger zittert – der Mittelfinger. Nicht das leiseste Knarzen vom Holzfußboden ist zu hören. Der Studienleiter stellt eine Frage:
»Wer war das?«
Keine Antwort. Der Studienleiter kneift die Lippen zusammen und nickt mehrmals, so als verstünde er, ließe sich dadurch jedoch nicht beeindrucken.
»Der, der’s war, soll’s sagen.«
Seine Braue zuckt jetzt so, daß er nicht mehr richtig geradeaus sehen kann; unwillkürlich zwinkert er. Niemand sagt ein Wort.
»Der, der weiß, wer’s war, soll’s sagen.«
Der Studienleiter verdreht den Hals, seine Zähne bearbeiten die Innenseite von Lippen und Backen. Niemand sagt ein Wort. Alle wissen, daß Servelli diejenige war – nur Servelli lacht, wenn sonst keiner lacht. Aber niemand sagt ein Wort. María Teresa steht ganz nahe beim Studienleiter, ebenfalls der Klasse gegenüber, allerdings unterhalb des Pultes. Sie ist verwirrt: Auch sie weiß, daß Servellidiejenige ist, die gelacht hat. Aber sie weiß nicht, was sie tun soll: Soll sie es sagen oder nicht? Viel Zeit zum Überlegen bleibt ihr nicht, wenn sie es sagen will, dann sofort. Sie ist unsicher. Einerseits fürchtet sie, nicht ohne Grund, die Schüler könnten ihr Schweigen als geheimes Einverständnis auffassen, die Schüler wissen nämlich auch, daß sie Bescheid weiß. Folglich müßte sie umgehend das Wort ergreifen und verkünden: »Servelli war’s.« Andererseits merkt sie, daß der Studienleiter auf etwas anderes hinauswill, er möchte nicht nur wissen, wer da gelacht hat, etwas anderes, Tiefergehendes, ist ihm noch wichtiger: Der, der’s war, soll es selbst sagen; oder aber ein Freund von dem, der’s war, soll ihn verraten. Damit das geschehen kann, muß María Teresa sich zurückhalten. Wenn der Studienleiter fragt, wer es war, wenn der Studienleiter fragt, ob einer weiß, wer es war, ist sie mit dieser Frage nicht gemeint. Sie ist die Aufseherin, aber keine Schülerin der zehnten Obertertia. Um diesen Unterschied, der sie schützt, aufrechtzuerhalten, muß sie striktes Schweigen bewahren. Und so steht sie nun da, halb entschlossen, ihr Schweigen beizubehalten, halb in diesem Entschluß schwankend, bis der Studienleiter nicht länger warten möchte und Maßnahmen ergreift:
»Die zehnte Obertertia erhält eine Kollektivstrafe, zehnfacher Verweis, außerdem wird sie während der gesamten Woche die siebte Stunde nachsitzen.«
Jeder Schultag besteht aus sechs Schulstunden, jede Schulstunde dauert vierzig Minuten. Die drei dazwischenliegenden Pausen dazugerechnet, erstreckt sich der Nachmittagsunterricht folglich über fünf Zeitstunden: von zehn nach eins – Unterrichtsbeginn – bis zehn nach sechs – Unterrichtsende. Dem Colegio steht es darüber hinausfrei, an die sechs Pflichtstunden zusätzlich eine siebte Unterrichtsstunde anzuhängen, sei es aus pädagogischen, sei es aus disziplinarischen Gründen. In diesem Fall halten sich die Schüler fast bis neunzehn Uhr im Colegio auf. Um diese Uhrzeit ist das Gebäude leer, oder nahezu leer; ein Umstand, der nicht nur unmöglich zu kaschieren ist, sondern die bedrückende Wirkung der auferlegten Strafe noch verstärkt. Von der Straße hört man dann das Geräusch ferner Schritte, wie sich auch unabweisbar die Gewißheit einstellt, daß es draußen bereits dunkel ist oder doch bereits dunkel wird.
Während der siebten Stunde müssen die Schüler, jeder an seinem Platz, im Klassenraum bleiben; unterhalten dürfen sie sich nicht, wie sie sich auch nicht mit etwas anderem als dem Lehrstoff beschäftigen dürfen. Lernen dürfen sie, wenn sie wollen. Wollen sie dies nicht, dürfen sie jedoch nichts anderes machen.
»Herrschaften, dies ist keine Freistunde.«
Zettel herumreichen ist ebenso verboten wie Kaugummi kauen, irgendwelche Knöpfe oder Schleifen der Schuluniform lockern oder sich mit Denksportaufgaben die Zeit vertreiben, auch wenn diese sich allein spielen lassen.
»Herrschaften, dies ist keine Belohnung. Und auch keine Pause. Sie sind zum
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