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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Kolonialzeit befinden, als das Colegio Nacional noch Real Colegio de San Carlos hieß; damals führten diese Tunnel zur Iglesia de San Ignacio und von dort aus weiter bis zur Festung an der Plaza Mayor oder, wie es heute heißt, zum Regierungspalast an der Plaza de Mayo.
    Im Untergeschoß angekommen, wird María Teresa von einer leisen Unruhe erfaßt, und obwohl diese Region mit ihren niedrigen Decken letztlich nicht viel düsterer als der Rest der Gänge und Räume des Colegio ist, verspürtsie eine gewisse Beklemmung, während sie überlegt, wo genau sich diese Geheimtunnel wohl befinden mögen. Herr Biasutto, der Oberaufseher, holt sie aus ihren Träumereien.
    »Schnell, hier lang.«
    Der Ausgang zur Calle Moreno ist klein, fast könnte man ihn übersehen, er hebt sich kaum von der Wand ab, deren einheitlich graue Fläche er unterbricht. Er hat seinerseits etwas von einer Geheimtür, nicht weniger geheim als die mysteriösen Tunnel, um die sich so viele Mutmaßungen ranken. Normalerweise wird er ja auch nicht benutzt, er ist stets verschlossen; daß er heute geöffnet wurde, ist eine Ausnahme.
    »Also dann, bis morgen.«
    Wie Fallschirmspringer, die sich von einem fliegenden Flugzeug lösen, treten die Schüler auf die Straße hinaus – ängstlich, aber zugleich im Bewußtsein, daß es kein Zurück für sie gibt. Sie tun, was man ihnen befohlen hat: Sie entfernen sich von dort, unverzüglich, doch ohne Hast. Sie gehen nach Hause. Auch die Aufseher gehen nach Hause, sobald die tägliche Arbeit erledigt ist. Um kurz nach halb sieben sammeln sie ihre Sachen ein und machen sich bereit zum Fortgehen. Als María Teresa feststellt, daß man sie erneut ins Untergeschoß schickt, begreift sie augenblicklich, daß die Anweisungen des Vizerektors, die sie gewissenhaft an die Schüler weitergegeben haben, auch sie, die Aufseher, betreffen und mit einschließen. Auch María Teresa wird das Colegio durch den Ausgang zur Calle Moreno verlassen. Auch ihr ist der Zugang zur U-Bahn verwehrt, mit der sie normalerweise zur Arbeit und wieder nach Hause fährt. Auch sie wird schnellen Schritts, doch ohne zu hetzen, zur Avenida Nueve deJulio gehen. Dort wird sie den erstbesten Autobus besteigen, auch wenn sie anschließend in einen anderen Bus wird umsteigen müssen, der tatsächlich in ihre Richtung fährt. Sie weiß ebensowenig, was genau eigentlich vor sich geht, auch wenn sie die ganze Zeit so tut, als wüßte sie es. Auch sie weiß nicht so recht Bescheid.
    Auf der Straße ist alles ruhig. Allzu ruhig, um genau zu sein. Das wirkt seltsam. Um diese Uhrzeit herrscht hier, mitten im Zentrum, normalerweise dichter Verkehr, mehr als zu jeder anderen Tageszeit, aber es sind kaum Autos unterwegs. Die wenigen Fußgänger machen auf María Teresa den Eindruck von Leuten, die gerade einem Keller entstiegen sind, wie die Bewohner einer Stadt, die von Flugzeugen angegriffen wird. Hastig wechseln sie von einem Schutzraum zum nächsten, dafür nutzen sie eine Kampfpause – alles zusammen erklärt womöglich ihr gehetztes und verängstigtes Aussehen. María Teresa macht wahrscheinlich den gleichen Eindruck, aber sich selbst sieht sie natürlich nicht. Der Himmel über der Stadt verdunkelt sich jedenfalls zusehends, und die heraufziehende Nacht hat etwas düster Lastendes im Schlepptau. Wo genau der Ursprung dieser bedrückenden Stimmung liegt, läßt sich nicht ausmachen, aber sie ist in jedem Falle mit Händen zu greifen.
    Endlich steht María Teresa an der Avenida Nueve de Julio. Sie fragt sich, ob die Avenida tatsächlich die breiteste Straße der Welt ist. Suchend hält sie nach einem Bus Ausschau. Als sie den Kopf nach rechts wendet, stößt ihr Blick auf den Obelisken. Da fällt ihr die Postkarte ihres Bruders wieder ein. Von der Erinnerung an die Abbildung darauf wandern ihre Gedanken weiter bis zu ihm.

Siebte Stunde
    Wie so oft Servelli mit ihrer schlechten Angewohnheit: Plötzlich lacht sie einfach los, ohne erkennbaren Grund und völlig zur Unzeit; diesmal hat sie jedoch wirklich den allerunpassendsten Moment erwischt. Daß sie einfach so rausplatzt – ihre Klassenkameraden finden das natürlich witzig, trotzdem muß man sie deswegen ermahnen –, kommt von einer Nervenschwäche, vielleicht will sie aber auch bloß den Unschuldsengel spielen, oder sie braucht tatsächlich so lange, bis sie einen Witz kapiert, eine sarkastische Bemerkung als solche erkennt. Ein völlig sinnloses Lachen, das wiederum das Gelächter der

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