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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Klassenkameraden hervorruft, ein spöttisches Gelächter. Diesmal jedoch verbieten die Umstände so eindeutig, daß jemand sich amüsiert zeigt, daß Servellis Lachen keinerlei Nachahmer findet, im Gegenteil, so einsam wie es eingesetzt hat, erlischt es in betretenem, peinvollem Schweigen.
    Der Studienleiter macht die Runde durch sämtliche Klassen des Nachmittagsunterrichts. Er hat vor, einige wenige Worte an die Schüler des Colegio zu richten. Sobald er das Klassenzimmer betritt, müssen die Schüler sich aufrecht neben die Bänke stellen und dürfen sich dann nicht mehr rühren, genau wie wenn ein Lehrer hereinkommt, um den Unterricht zu beginnen. Der Unterschied ist nur, daß sie sich im letzteren Fall anschließend hinsetzen, damit der Unterricht tatsächlich anfangenkann, während sie nun stehen bleiben, die Augen geradeaus, die Arme angelegt, bis der Studienleiter zu erkennen gibt, daß sein Auftritt beendet ist, worauf er sich verabschiedet und aus der Klasse geht.
    Wenige, aber klare Worte richtet er an die Schüler, so ernst und nachdrücklich ausgesprochen, daß sie wie von selbst Glaubwürdigkeit erlangen. Es geht um die Bedeutung des Colegio Nacional de Buenos Aires innerhalb der Geschichte der Republik Argentinien und folglich darum, was es heißt, Schüler des Colegio zu sein. Zunächst ein Blick auf die Geschichte: Zurück zum Jahr 1778, dem Jahr der Gründung des Colegio durch den Vizekönig Vértiz, den zweiten Vizekönig der Vereinigten Río-de-la-Plata-Provinzen. Dieser sollte im nachhinein den Ehrentitel »Vizekönig der Aufklärung« erhalten (zum einen veranlaßte er die Einrichtung der ersten systematischen Straßenbeleuchtung der Stadt Buenos Aires, zum anderen schuf er das Fundament für eine Reihe wahrer Säulen des aufklärerischen Glaubensbekenntnisses wie eben das Königliche Colegio de San Carlos). Die Ansprache geht weiter mit einer knapp gehaltenen Auflistung berühmter Schüler des Colegio, das schon bald allgemein unter dem Namen Colegio de Ciencias Morales bekannt war; unter diesen Schülern, daran gibt es keinen Zweifel, ragt insbesondere Manuel Belgrano hervor, der Held im Befreiungskampf, Mitglied der ersten Regierungsversammlung von 1810, Sieger in den Schlachten bei Salta und Tucumán und Schöpfer der argentinischen Nationalflagge, zu welcher Schöpfung er durch den vom Sonnenlicht erhellten Himmel angeregt wurde. Im Jahr 1863 kommt es zur Neugründung des Colegio durch Bartolomé Mitre, den eigentlichen Begründer der argentinischenNation, unter dessen weiser Lenkung es den bis heute gültigen Namen Colegio Nacional erhält. Mitre war der erste Präsident Argentiniens, ein mit allen Wassern gewaschener Kriegsführer, gestandener Historiker, Vollblutjournalist und begnadeter Übersetzer. Er gründete die argentinische Nation wie auch die Tageszeitung La Nación , wie auch die Nationalgeschichte, wie auch das Colegio Nacional. Später, um das Jahr 1880, wird das Colegio zur Wiege der bislang glänzendsten Generation der argentinischen Geschichte, wie Miguel Cané in seinem Buch Juvenilia belegt. Somit übernimmt das Colegio einmal mehr eine entscheidende Rolle bei der unschätzbaren Konsolidierung des argentinischen Nationalstaates. Aus diesen knappen Ausführungen, sagt der Studienleiter, sei eindeutig zu ersehen, daß die Geschichte unseres Vaterlandes und die des Colegio unlösbar miteinander verknüpft sind. Hieraus wiederum folgt für ihn unabweisbar, daß jeder Schüler des Colegio, allein aufgrund der Tatsache, daß er Schüler des Colegio ist, eine unvergleichliche Verpflichtung gegenüber dem Vaterland eingeht, eine Verpflichtung, die die eines jeden anderen Argentiniers noch übersteigt (mit Argentinier meint er, wie er sagt, Argentinier aus anständigen Familien). Wenn das Vaterland ruft, kann es sich keiner Antwort sicherer sein und wird es auf keine Antwort weniger lange zu warten haben als auf die der Schüler des Colegio Nacional.
    »Und darüber denken Sie bitte einmal nach. Ganz besonders in diesem Moment.«
    Der Studienleiter beendet seine Ausführungen, verabschiedet sich und geht hinaus. Schon ist er jenseits der Schwelle und doch noch nicht ganz draußen; was in diesem Augenblick in der Klasse geschieht, erreicht ihnnoch, betrifft ihn noch, und es ist vor allem in keiner Weise hinzunehmen und hätte folglich auch keinesfalls geschehen dürfen: Servelli lacht auf, ohne Sinn und Verstand. Kurz, nur halblaut, ohne jede Bosheit und dennoch unüberhörbar.

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