Skalpell Nr. 5
als wäre sie selbst am Tatort gewesen. Die Ereignisse, um die es beim Fall Esmeralda Carramia ging, hatten sich innerhalb weniger Minuten abgespielt, aber das bisschen Zeit hatte genügt, um einer ganzen Familie das Herz zu brechen, eine Stadt zu spalten und der zuständigen Polizei den Vorwurf des Rassismus und der Brutalität einzuhandeln.
Newark, New Jersey, 25. November 2003. Esmeralda Carramia betritt Steinless, das letzte Kaufhaus in der Innenstadt. Sie braucht ein Geburtstagsgeschenk für ihre Großmutter. Esmeralda, Essie, wie ihre Großmutter sie liebevoll nannte, ist die Tochter von Emigranten aus der Dominikanischen Republik, die erst kürzlich von Miami nach Newark gezogen sind. Der Verkäufer, ein Weißer, übersieht sie geflissentlich. Dann beschuldigt er Essie, einen 49 Dollar teuren Seidenschal gestohlen zu haben. Essie streitet das ab. Die beiden werden laut. Der Sicherheitsdienst wird gerufen. Wenige Minuten später kommt die Polizei. Essies Einkaufstasche wird durchsucht; man findet einen Schal, an dem noch das Preisschild hängt. Sie sagt, der Verkäufer habe ihr den untergeschoben, schwört es bei der Heiligen Jungfrau von Guadeloupe. Keiner glaubt ihr. Die Polizei führt sie nach draußen, um sie mit auf die Wache zu nehmen. Essie leistet Widerstand. Sie schlägt um sich. Ihre Eltern sagen später aus, dass das völlig untypisch für sie ist. In dem Durcheinander bekommt ein Officer ein Knie in den Schritt gerammt; ein anderer holt sich eine blutige Nase. Verstärkung trifft ein. Mittlerweile sind sechs Polizisten vor Ort, von denen keiner unter 70 Kilo auf die Waage bringt. Essie ist 1,57 Meter groß und wiegt keine 48 Kilo. Später kann keiner mehr sagen, wer dafür verantwortlich war, dass sie mit dem Kopf aufs Pflaster schlug. Als die Polizisten sie in den Streifenwagen verfrachten, merken sie, dass das Mädchen bewusstlos ist. Im Krankenhaus wird Esmeralda Carramia für hirntot erklärt. Sie ist neunzehn Jahre alt.
Ungerechtigkeit!
Manny hatte den Fall zwei Monate später angenommen, als Esmeraldas Eltern, bewaffnet mit Kinderfotos und gerechtem Zorn, bei ihr in der Kanzlei erschienen waren. Sie waren nach Amerika gekommen, um ein besseres Leben zu haben, sagten sie, und die Menschen, die Essie eigentlich hätten beschützen sollen, hatten sie stattdessen ermordet. Das da war ein Bild von Essie ganz in Weiß am Tag ihrer Erstkommunion, und da, in einem weißen Rüschenkleid für ihre Quinceañera. Und, falls Manny noch immer nicht überzeugt war, hier hatten sie die kleine Amaryllis auf dem Schoß – ihre einjährige Enkelin, Essies Tochter –, die nun ohne Mutter aufwachsen würde.
Obwohl kein Geld der Welt ihnen ihre Tochter zurückgeben konnte, sollten wenigstens die Leute, die sie auf dem Gewissen hatten, bezahlen.
Manny hatte sich mit ihrem üblichen Eifer ans Werk gemacht. Sie hatte die Cops, die Zeugen und die Mitarbeiter des Kaufhauses befragt. Die Fakten standen außer Frage: Esmeralda hatte sich gewehrt, war gestürzt und gestorben. Ihr forensischer Pathologe war mit dem staatlichen Gerichtsmediziner einer Meinung, was die Todesursache betraf: ein Schlag auf den Kopf, der eine subdurale Blutung ausgelöst hatte.
Essies Eltern und ihre Großmutter hatten klare und wortgewandte Aussagen abgegeben. Ihre Essie sei ein gutes Mädchen gewesen, fromm, habe nie etwas Böses getan, schon gar nicht gestohlen. Als Manny den Beweisvortrag abgeschlossen hatte, wusste sie, dass die Sympathien der Geschworenen ihren Mandanten gehörten. Sollte der gegnerische Anwalt ruhig versuchen, die Handlungsweise der Cops zu rechtfertigen. Sie würde alles, was die gegnerische Seite sagte, in ihrem Schlussplädoyer verwenden, um sie restlos auseinanderzunehmen.
Als Manny durch den Metalldetektor ging, gellte ein Alarmton. Der Polizeibeamte führte eine Handsonde an ihrem Körper nach unten und stoppte bei ihren Schuhen: italienisches Design, tiefschwarze Pumps von d’Orsay. »Sie sollen so was doch nicht mehr tragen, Ms. M«, sagte er. »Ich hab Ihnen schon hundertmal gesagt, dass die Metall im Absatz haben.«
»Das hält Sie auf Trab«, sagte Manny kokett. »Außerdem passen sie zu meinem Outfit.« Sie ging quer über den grün-weißen Marmorboden der imposanten Rotunde des Gerichtsgebäudes und strebte nach oben zur Damentoilette.
Manny brachte ihr Make-up in Ordnung, steckte das Haar hoch und glättete den Blazer und Rock ihres glänzend blauen Kostüms mit dem Leopardenfellfutter. Das
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