Skalpell Nr. 5
unabhängige Sachverständige für jeden arbeiten konnten, aber sie fühlte sich trotzdem hintergangen. Er war so geduldig mit ihr gewesen, so kooperativ. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er über den ersten, offensichtlich manipulierten gerichtsmedizinischen Bericht im Terrell-Fall ebenso empört war wie sie. Damals schien ihm die Wahrheit am Herzen zu liegen; jetzt wusste sie, dass seine Aussage an den Höchstbietenden verkauft werden konnte.
Manny blickte kaum auf, als er hereinkam. Sie wusste, was er sagen würde, aber ihr eigener forensischer Experte hatte ihr versichert, dass sein Gutachten Blödsinn war. Zugegeben, sie hatte ihn kurzfristig – einen Moment lang – attraktiv gefunden. Na und? Jetzt wusste sie, dass er der leibhaftige Judas war.
Als er nun zum Zeugenstand ging, sah er bloß noch aus wie ein überbezahlter Schlaukopf aus einem schlechten Film, den die Cops aus dem Ärmel gezaubert hatten, damit er ihr Fehlverhalten schönredete. Manny wusste, dass er erst vierundvierzig war, aber im Licht des Gerichtssaals wirkte er älter. Und er hätte einen Pilates-Kurs für Körperhaltung gebrauchen können, um was gegen seine Hängeschultern zu tun. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine dünne schwarze Krawatte. Ohne die Frisur des wahnsinnigen Wissenschaftlers und mit Gel in den Haaren hätte er ausgesehen wie ein in die Jahre gekommener britischer Punkrocker. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Gesichtsbehaarung aus den Siebzigern, Kleidung aus den Achtzigern. Was hatte der Mann für ein Problem? Hatte ihm noch keiner verraten, dass er im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte?
Im Zeugenstand untermauerte Rosen seine Ansicht, dass die Polizei durchaus schuldlos sein könnte, indem er auf ein Berry-Aneurysma im Gehirn verwies. Schuldlos! »Fassen wir also zusammen«, sagte der Anwalt, »Ihrer sachverständigen Meinung nach wurde Miss Carramias Tod nicht durch irgendwelche Handlungen seitens der Polizeibeamten herbeigeführt.«
»Das ist richtig«, sagte Rosen und wandte sich den Geschworenen zu. »Meiner Meinung nach ist mit ziemlich großer medizinischer Gewissheit von einer natürlichen Todesursache auszugehen.«
Ja klar. Der Bürgersteig ist plötzlich hochgeklappt und hat Esmeralda den Schädel eingeschlagen.
»Danke für Ihre Offenheit, Dr. Rosen.« Der Verteidiger bedachte die Geschworenen mit seinem widerwärtig süßlichen Lächeln. »Keine weiteren Fragen.«
Manny erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf den Zeugen zu. Sie würde ihm den Kopf abreißen und den Hunden zum Fraß vorwerfen.
»Dr. Rosen, wie viel bezahlt man Ihnen für Ihre heutige Aussage?«
»Mein Honorar beträgt fünftausend Dollar – für meinen Zeitaufwand, nicht für meine Aussage.«
Manny hob verächtlich eine Augenbraue. »Pro Tag?«
»Ja.«
Ihr hatte er im März für die zweite Obduktion nicht so viel abgeknöpft. Vielleicht hätte sie ihn für Essies Eltern anheuern können, wenn sie mehr geboten hätte als die Verteidigung.
»Verstehe«, sagte sie. »Sie arbeiten für die Stadt New York, richtig?«
»Ich bin stellvertretender Leiter der Gerichtsmedizin. Aber in diesem Fall sage ich in meiner Eigenschaft als Arzt und forensischer Pathologe aus.«
Blut verdunkelte das Wasser, und sie war der Hai. »Ist es bei Ihrer Tätigkeit für die Stadt nicht wichtig, ein gutes Verhältnis zur Polizei zu haben?«
Er schlug die Beine übereinander, schien ungerührt. Manny bemerkte, dass sein Jackett geflickt war. Fünftausend am Tag und nicht mal Geld für einen neuen Anzug? Versager.
»Natürlich«, sagte er, »aber das beeinflusst nicht meine Meinung als Sachverständiger.«
»Kennen Sie Dr. Justin West, den Gerichtsmediziner für den Staat New Jersey, und Dr. Sanjay Sumet, den forensischen Pathologen, der in diesem Fall für den Kläger ausgesagt hat?«
»Selbstverständlich. Beides ehrbare Männer und geschätzte Kollegen.«
»Dr. West und Dr. Sumet sind übereinstimmend zu der Erkenntnis gelangt, dass Miss Carramia an den Folgen eines Schlages auf den Kopf gestorben ist. Sie hingegen behaupten, sie sei eines natürlichen Todes gestorben – an einem Hirnaneurysma. Ist das richtig?«
»Ja. Wie ich soeben gesagt habe, ein geplatztes Berry-Aneurysma.« Rosen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht knarrte. Der Zeugenstand war nicht dafür geschaffen, so langen Beinen Platz zu bieten. Manny hoffte, dass er sich mit seinen
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