Skalpell Nr. 5
im Saal, Freunde von Essie und Freunde der Cops, saßen einen Moment stumm da und fingen dann an, durcheinanderzureden, ohne auf das Hammerklopfen des Richters zu achten. Nur Rosen blieb ruhig, saß im Zeugenstand wie ein König auf seinem Thron oder, wie Manny dachte, wie mein Henker.
»Keine weiteren Fragen«, wisperte sie.
1
S o stellte Jake sich einen idealen, verregneten Freitagabend vor. Der Prozess war zu Ende, die Wahrheit hatte gesiegt – das mit Manny Manfreda tat ihm leid; sie hatte ihre Sache gut gemacht, nur eben mit den falschen Beweisen – und jetzt war er allein in seinem Sandsteinhaus auf der Upper East Side, saß in der Küche, aß etwas Mitgebrachtes vom Chinesen und las einen Aufsatz über Blutspritzspuren, während er im Hintergrund Duke Ellingtons Soundtrack zu Anatomie eines Mordes hörte. Ruhe und Frieden waren doch etwas Wunderbares.
Außer den Pappbehältern vom Essen türmten sich auf dem roten Resopaltisch mit Chrombeinen Berge von Akten; die würde er sich übers Wochenende vornehmen. Seine Küche war bunt zusammengewürfelt: ein frisch erworbener Kühlschrank aus gebürstetem Stahl, ein avocadogrüner Herd aus den Sechzigern, ein weißer Porzellanspülstein aus den Fünfzigern. Die Arbeitsplatten bestanden aus Fünfzigerjahre-Resopal mit grünem geometrischem Muster; die Metallschränke, die im Laufe der Jahre immer mal wieder überstrichen worden waren, trugen derzeit ein tristes Beige. Ein Küchenwagen aus massivem Holz stand ehrwürdig in der Mitte, gezeichnet von zahllosen weißen Ringen, die nasse Teller und Gläser hinterlassen hatten. Eine Glastür führte in den Garten, der aufgrund von Vernachlässigung zum Lebensraum für einige glückliche Eichhörnchen, etliche Tauben und den ein oder anderen Terrassenstuhl geworden war.
Jake hatte das fünfgeschossige Stadthaus Mitte der Achtzigerjahre gekauft, kurz nachdem er eine Stelle in der Gerichtsmedizin bekommen hatte. Er hatte es sich nur leisten können, weil es nördlich der 96. Straße lag, schon fast in Harlem, was damals nicht gerade die attraktivste Wohngegend war. Aber er betrachtete es nicht als Investition oder Besitz. Er sah darin die Geschichte New Yorks: die Reichen, die einst die Gegend bevölkert hatten, die sorgfältige Arbeit der Steinmetze im neunzehnten Jahrhundert und die Vielfalt der sich unablässig verändernden Nachbarschaft. Als er endlich das Geld hatte, das Haus modernisieren zu lassen, war es so vollgestopft mit forensischem Lehrmaterial und Geräten, dass er nicht gewusst hätte, wo er anfangen sollte. Außerdem hatte er gar nicht die Zeit dafür. Er lebte in New York, wo Tag für Tag Hunderte von Menschen starben. Er hatte einfach nie Zeit.
Die Musik verstummte, und er hörte auf zu kauen und starrte auf das Essen. Die Sauce auf dem Sesamhähnchen, so dachte er, hatte fast die Konsistenz von menschlichem Blut. Er griff nach einem Messer, tunkte es in die Sauce und spritzte sie über den Küchentisch und an die Wand dahinter, als hätte jemand das Hähnchen von hinten erstochen.
Das Telefon klingelte. Mist. Er ging ran. »Rosen.«
»Vermisst du mich?«
Freude stieg in ihm auf. Die einzige Stimme, die ihn in seiner Einsamkeit stören durfte – immer und überall –, gehörte Pete Harrigan. Pete war dreißig Jahre älter als Jake und einer von nur zwei Menschen auf dieser Welt, die Jake liebte. Der andere war sein Bruder Sam, und Sam hatte nicht das Privileg, ihn zu stören.
»Klar vermiss ich dich.« Jake betrachtete die Schweinerei auf dem Tisch. »Ich hab sogar gerade an dich gedacht. Der Einfluss der Messerlänge auf das Muster von Blutspritzspuren.«
»Ich fühle mich geschmeichelt«, sagte Harrigan. »Aber was machst du zu Hause? Du solltest unterwegs sein, dich mit Frauen treffen. Hattest du nicht was mit dieser Fingerabdruckexpertin aus dem –«
»Hab ich beendet«, sagte Jake rasch und registrierte einen kleinen schmerzlichen Stich. »Zu kurz nach meiner Scheidung.«
»Probleme mit Frauen, Probleme im Büro. Wie ich höre, hattest du Ärger mit Chief Pederson. Zu viel freiberufliche Arbeit, nicht genug Zeit, um der Stadt zu Diensten zu sein.« Harrigan war früher selbst Leiter der Gerichtsmedizin gewesen. Offensichtlich hatte er noch immer Kontakte zum Büro, auch wenn er jetzt im Ruhestand war. »Wie geht’s denn dem guten alten Charles Pederson? Kann er mich noch immer nicht leiden, wo er jetzt auf meinem Stuhl sitzt?«
»Was dich betrifft, hat sich nichts geändert«,
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