Skandal im Ballsaal
wenn es ihm nicht bald klar geworden wäre, dass Marlow absichtlich hier weilte.
Lord Marlow war immer offen und gutmütig, aber er hatte nie anders als auf allgemein höfliche Art mit Sylvester verkehrt, der fünfundzwanzig Jahre jünger war als er. Bei dieser Gelegenheit jedoch war er bemüht, sein Wohlwollen zu gewinnen, und nichts konnte seine Freundlichkeit übertreffen. Sylvester sah, dass Lady Ingham am Werk gewesen war.
Hätte die Begegnung nicht eben auf einer Jagdgesellschaft stattgefunden, er hätte die Anträge Seiner Lordschaft mit der kühlen Förmlichkeit zurückweisen können, derer er sich bediente, wann immer es ihm ratsam schien. Aber der Lord Marlow, der aufgeräumt blindlings durch die Londoner Szene tappte, und der Lord Marlow, der eines seiner hochgezüchteten Jagdpferde bestieg, waren zwei sehr verschiedene Personen. Den einen konnte man verachten; der andere forderte den Respekt eines jeden Jägers heraus. Ob es über die schwarzen Zäune von Leicestershire oder die Steinmauern von Cotswold das Hochland hinunterging, er hatte wenig seinesgleichen, und nicht einmal Lord Alvanley konnte es mit ihm an Beherztheit aufnehmen. Jeder verfügbare Penny vom Ertrag eines Vermögens, das schon lange für unangemessen galt, wurde für seine schnellen Jagdpferde ausgegeben, von denen er nie weniger als vierzehn in den Ställen hatte; und von ihm auf dem Feld um ein Wort des Rates oder der Zustimmung gebeten zu werden, war der Ehrgeiz eines jeden jungen Mannes, der danach trachtete, seiner Tapferkeit nachzueifern. Sylvester ahnte sehr wohl, warum er sich plötzlich der Gunst Seiner Lordschaft erfreute, aber er konnte dem gutmütigen Lobeswort gegenüber nicht gleichgültig bleiben oder für den Rat, der ihn den Kunstgriff bei den Steinmauern lehrte, undankbar sein. Eine Sache ergab die andere, und vor Ende der Woche war er völlig unter seinem Einfluss und hatte die Einladung angenommen, ein paar Tage auf Austerby zu bleiben, wenn er Blandford Park verließ. Lord Marlow wurde allgemein f ü r einen einfältigen Mann gehalten, aber er war nicht so dumm, merken zu lassen, dass er irgendein anderes Ziel verfolgte, als Sylvester zu zeigen, welchen Spaß man auf dem Lande haben konnte, und ihm möglicherweise (wenn es ihm passte) einen vielversprechenden Fünfjährigen zu verkaufen, der noch nicht ganz sein Gewicht erreicht hatte. Sein Besuch sollte ganz formlos sein. Sie würden zusammen Blandford Park verlassen, und Salford würde mit der Küche von Austerby vorliebnehmen. Lord Marlow erwähnte seine Tochter nicht; und diese Umstände erlaubten es Sylvester, sich überreden zu lassen. Im Ganzen gesehen, war er nicht ungehalten. Bei der unerwartet taktvollen Behandlung der Angelegenheit durch seinen Gastgeber konnte er die Bekanntschaft von Miss Marlow machen, ohne sich in irgendeiner Weise fest-zulegen: das war ein bessere Gelegenheit, dachte er, als eine förmliche Londoner Gesellschaft, zu der er eindeutig zu dem Zweck eingeladen werden würde, die junge Dame zu treffen.
Die Oberaufsicht über das Schulzimmer von Austerby hatte eine Dame von eindrucksvollem Aussehen. Ihre knochige Gestalt war ständig in Kleider von unscheinbarer Färbe gehüllt, die hoch bis zum Hals hinaufreichten und nie durch Falbeln verziert waren. Ihr rotblondes Haar war unter einer Haube glatt zurückgekämmt, ihr Gesicht vom Wetter gebräunt; ihre Augen waren von blassem Blau, und ihre Nase, der bemerkenswerteste Zug ihres Gesichtes, ragte einschüchternd hervor. Sie hatte eine barsche Art zu reden, und da ihre Stimme tief war, glich sie ganz einem wirklichen Drachen.
Äußerlichkeiten aber können täuschen. Unter Miss Sibylla Batterys furchterregender Fassade schlug ein warmes, zärtliches Herz. Ihre jungen Schutzbefohlenen, vielleicht mit Ausnahme von Eliza, der dritten und am meisten geliebten Tochter von Lady Marlow, verehrten sie. Phoebe, Susan, Mary und sogar die kleine Kitty vertrauten ihr ihre Hoffnungen und Kümmernisse an.
Man hätte meinen können, dass Miss Phoebe Marlow, neunzehn Jahre alt und Debütantin einer Season, vom Schulzimmer befreit worden wäre; aber da sie ihre Stiefmutter, Lady Marlow, fürchtete und verabscheute und von dieser ebenso von Herzen gehasst wurde, war sie froh, die Italienischstunden bei Miss Battery als Entschuldigung zu gebrauchen, und so die Zeit, die sie nicht in den Ställen war, im Schulzimmer zu verbringen. Diese Einrichtung passte Lady Marlow recht gut, denn wenn sie auch auf
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