Skorpion
Fuzzi telefonierte das achtundzwanzigste Revier an und stellte irgendeinem Leiter dort Fragen. Schließlich hatte er Glück. Er hat mit jemandem gesprochen, der entweder sehr kooperativ oder wirklich dämlich war.«
»Verdammter Williamson!«
Norton zuckte mit den Schultern. »Ja, oder wer sonst. Man kann drauf wetten, dass eine halbe Stunde nach Williamsons Rückkehr zum achtundzwanzigsten jeder Polizist auf dem Revier wusste, dass hier ein Dreizehner auf den Straßen herummarschiert. Und wahrscheinlich keinerlei Grund sah, deswegen die Klappe zu halten. In ihren Augen ist das ein grundlegendes Thema der öffentlichen Sicherheit. Sie wissen, dass sie bei uns nirgendwo einen Hebel ansetzen können, also sind sie mehr als glücklich darüber, die Dämonisierung von den Nachrichten übernehmen zu lassen.«
»Dämonisierung?« Carl grinste. »Ich habe geglaubt, ich wäre da drin, weil ich Ortiz gerettet habe.«
»Und zwei andere umgebracht«, sagte Ertekin erschöpft. »Vergessen Sie diesen Teil nicht!«
»Sie bitten um ein Statement, Sev. Nicholson sagt, er könne sich vorstellen, dass Sie jetzt an der Reihe sind. Ehemaliger Detective beim NYPD und all das. Sollte es Ihnen einfacher machen, jegliche Anti-COLIN-Gefuhle herunterzuspielen, die das achtundzwanzigste Revier aufgewühlt haben könnte.«
»Oh, vielen Dank, Tom.« Ertekin warf sich wieder in ihren Sessel und sah funkelnd zu Norton auf. »Eine verdammte Pressekonferenz ? Du glaubst, ich hätte nichts Besseres zu tun, als mit den verfluchten Medien zu sprechen?«
Norton breitete die Arme aus. »Liegt nicht an mir, Sev. Liegt an Nicholson. Und seiner Sichtweise nach… nein, du hast gerade jetzt nichts Besseres zu tun. Was soll ich dagegen unternehmen – ihm sagen, dass du die Stadt verlassen hast?«
Carl begegnete über den Raum hinweg ihrem Blick. Er grinste.
Ungeachtet der knappen Zusammenfassung dieses Berichts ist es zwingend notwendig anzuerkennen, dass wir es hier mit echten Menschen zu tun haben und nicht mit einem theoretischen Modell menschlichen Verhaltens. Es sollte uns dann nicht allzu sehr überraschen, dass wir uns einer komplexen und möglicherweise verwirrenden Masse emotionaler Faktoren und Interaktionen gegenübersehen, auch sollte es uns nicht verblüffen, wenn wir entdecken, dass jegliche echte Lösung sehr wohl jenseits der gegenwärtigen Reichweite unserer Fragestellung zu suchen ist.
Jacobsen-Report, August 2091
22
COLIN Istanbul lag auf der europäischen Seite, nahe dem Taksim-Platz und eingebettet inmitten eines Waldes ähnlicher purpur- oder bronzefarbener Glastürme, in denen zumeist Banken residierten. Des Nachts hielten ein rudimentärer Sicherheitsdienst sowie automatisierte Waffen die Erdgeschosse, erhellt von einem weichen blauen Licht, für jedes gerade anfallende Geschäft geöffnet. Die Colony-Initiative war, um ihren eigenen Werbespruch zu paraphrasieren, ein Unternehmen, in dem die Sonne niemals unterging. Man wusste ja nie, wann oder wo sie vielleicht völlig erwachen und einen geopolitischen Muskel spielen lassen musste. Am besten war es daher, man hielt sich stets bereit. Sevgi, die Taksim zuallererst mit dem Mord an ihrem Großvater und Großonkel durch übereifrige türkische Sicherheitskräfte in Verbindung brachte, blieb gerade lange genug stehen, um sich die Schlüssel für eine der Wohnungen im Besitz von COLIN auf der anderen Seite des Bosporus in Kadiköy zu besorgen. Ein Großteil dessen, was sie sonst noch brauchte, würde sie über ihr Dataslate erhalten können. Das Gespräch mit Stéphane Névant war auf jeden Fall keine Sache von COLIN.
Je weniger offizielle Anwesenheit er an dir riechen kann, desto besser, hatte Marsalis zu ihr gesagt. Névant ist was Besonderes, er ist einer der wenigen mir bekannten Dreizehner, die sich mit einer externen Behörde arrangiert haben. Er hat seine Wut aus sich entleert. Was jedoch nicht bedeutet, dass er sich wohl dabei fühlt. Am besten stochern wir nicht mit dem Finger in dieser speziellen Wunde herum.
Dieselbe Limousine, die sie am Flugplatz abgeholt hatte, fuhr sie hinab zum Karaköy-Terminal, wo die ganze Nacht über die Fähren zur asiatischen Seite abfuhren. Sevgi tat den Protest des Fahrers wegen der Sicherheit mit einem Schulterzucken ab. Eine Fahrt über die Brücke würde ebenso lange oder sogar noch länger benötigen, als auf die Fähre zu warten, und sie musste den Kopf klar kriegen. Sie hatte nicht herkommen wollen, wollte noch
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