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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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liebenswürdig mit ihnen allen um, würgte die Jesusländer nicht völlig ab, bevorzugte jedoch bei weitem die Journalisten aus der Union, die er kannte und bei denen er darauf vertrauen konnte, dass sie keine Umwege nähmen. Sevgi gähnte und sah es sich bis zum Schluss an. Neben ihr im Suborbitalschiff döste das Objekt all ihrer Ängste und Aufmerksamkeit völlig unbesorgt.
    Sie selbst konnte nicht schlafen – das Syn würde es nicht zulassen. Einige Stunden später summte und surrte es immer noch in ihr, als sie sich auf die billige Kunststoffbestuhlung in der Wartehalle der Fähre warf und die wenigen anderen Passagiere mit dem Auge der Polizistin beobachtete. Der Ort war völlig nüchtern und zugig, von oben erleuchtet durch sporadisch auf den Dachbalken angebrachte Spots und von der Seite durch das geisterhafte Flackern einiger weniger LCLS-Reklametafeln, deren Sponsoren keine bestimmten Zeitvorgaben für den Betrieb gemacht hatten. Efes Extra!!, Jeep-Vorführung!!, Arbeiten auf dem Mars!! Die abgeschalteten Tafeln dazwischen wirkten wie lange graue Grabsteine, die an den korrodierten Stahlwänden hingen.
    Durch die zurückgerollten Gittertüren an der Seite zeigten sich die weiß gestrichenen Deckaufbauten der vertäuten Fähre wie ein ausgeschnittener Blick auf ein anderes Zeitalter. Moderne Ergänzungen der sehr differenzierten Kollektion an Wassertransportern in Istanbul erweckten den Eindruck von viereckigen Kunststoffschachteln, weswegen sie bloß noch wie die Meerbusse wirkten, die sie letztlich ja auch waren, und am Ende der Überfahrt nichts weiter zu bieten hatten als die Vervollständigung der täglichen Pendelfahrt. Aber die hohe, breite Brücke, der hingeduckte Schornstein und das lange Mittelstück eines uralten Schiffs, das noch immer auf der Strecke Karaköy-Kadiköy verkehrte, sprach von Abfahrt und weiter entfernten Orten und einer Ära, als Reisen immer noch auch Flucht bedeuten konnte.
    Marsalis kehrte von einem Erkundungsspaziergang zurück. Vermutlich hätte er zu ihres Großvaters Zeiten mehr Blicke wegen seiner Hautfarbe erhalten, aber jetzt stach er nicht mehr hervor als das halbe Dutzend Afrikaner, das übers Dock verstreut als Passagiere wartete, sowie die beiden, die in Overalls auf dem Deck der Fähre jenseits des Gitters standen. Niemand erübrigte für ihn mehr als einen Blick, und das zumeist wegen seines massigen Körpers und der leuchtend orangefarbenen Schrift auf der Anstaltsjacke, die er nach wie vor trug.
    »Müssen Sie die tragen?«, fragte sie gereizt.
    Er zuckte mit den Schultern. »Es ist kalt.«
    »Ich habe am Flughafen gesagt, ich würde Ihnen was anderes besorgen.«
    »Vielen Dank. Ich suche mir meine Kleidung selbst aus.«
    »Und warum haben Sie’s dann nicht getan?«
    Hörner dröhnten von den Dachbalken über ihnen. Ein LCLS-Pfeil mit eingeschriebenen Fahrtzielen auf einem fahrbaren Karren leuchtete auf und zeigte auf das zurückgeschobene Gitter; Haydarpasa, Kadiköy. Die beiden Männer auf der Fähre rollten das Fallreep heraus, und langsam trieben die Menschen auf das Schiff zu.
    Gedrängt von Erinnerungen aus der Kindheit, ging Sevgi die Steuerbordreling entlang, ließ sich auf der Bank nahe am Heck nieder, die nach außen zeigte, und stemmte die Schuhe gegen die unterste Sprosse der Reling. Das Wummern der Schiffsmotoren durch das Metall in ihrem Rücken, das Geruchsgemisch aus Motoröl und feuchten Befestigungsleinen führte sie in der Zeit zurück. Murats Hände, die ihr das Haar zausten, während sie neben ihm an der Reling stand, kaum groß genug, um über die oberste Sprosse hinwegzuschauen. Der weiche, brummelnde Rhythmus, in dem Türken das Englische in ihren Kopf schoben. Der Aufprall einer ganzen Welt, die sie zuvor bloß auf Fotos gesehen hatte, einer Stadt, die nicht New York war, einem Ort, der nicht ihr Zuhause war, jedoch etwas Hochwichtiges bedeutete – sie spürte es daran, wie sie sich umschauten, einander etwas zuriefen, die Hände des anderen auf ihrer Augenhöhe umklammerten: ihre Eltern. Istanbul hatte sie bis ins Mark ihres vierjährigen Lebens schockiert, und jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, tat es das erneut.
    Marsalis ließ sich in den Sitz neben ihr fallen und ahmte ihre Haltung nach. Die Reling klirrte dumpf unter dem Gewicht seiner Beine.
    »Jetzt werde ich wirklich diese Jacke brauchen«, meinte er fröhlich. »Sehen Sie!«
    Das Wummern der Maschine wurde tiefer, schwoll an zu einem Brüllen, und das Heck der Fähre hob sich

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