Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Schweigeseminare ein. Dort hörte ich auch zum ersten Mal eine Vorlesung des Psychiaters, Philosophen und Autors Iain McGilchrist.
An Kumars Lebensauffassung hat sich bis heute nichts geändert. Er geht immer noch auf Pilgerfahrten, mit fünfzig wanderte er zu den bedeutendsten heiligen Stätten Englands, wiederum ohne einen Pfennig Geld in der Tasche. Er ist eine Inspiration für jeden, der sich von jenem pessimistischen Realismus eingeengt fühlt, der viele Menschen daran hindert, ihren Instinkten oder ihren Träumen zu folgen. Der Titel seines Buchs – No Destination – weist auf Kumars Botschaft hin, die nicht nur auf das Reisen, sondern auch auf das Leben an sich anwendbar ist: Es kommt nicht darauf an, was das eigentliche Ziel Ihres Lebens ist, sondern darauf, was Sie mit der Zeit dazwischen – der Reise – anfangen.
Kumar beschreibt das Wandern als Meditation, und ersollte es wissen. Das Wörterbuch definiert Meditation als »den Geist in Kontemplation üben«. Kontemplation bedeutet »mit den Augen oder mit dem Geist aufnehmen«. Für mich ist das langsame Reisen eine Meditation, die auf einer allumfassenden Neugier basiert; es geht darum, die Welt neu zu entdecken und unsere Vorstellung davon, was »Wissen« bedeutet, in Frage zu stellen. Wie bei allem, was wir in unserem Leben erfahren, sind wir dabei auf die Arbeit unseres Gehirns angewiesen, weshalb ich in diesem Buch versucht habe, diese Arbeit zu verstehen, genauso wie das Reisen selbst. Unabhängig davon, ob das Reisen nun tatsächlich eine physische Bewegung ist oder sich nur im Geist abspielt, ist der Mensch immer auf Entdeckungsreise gewesen, seit er zum ersten Mal den Drang verspürte, Afrika zu verlassen und sich auf der Welt zu verbreiten.
Heute verändert das Internet die Art und Weise, wie wir reisen, in vielerlei Hinsicht, was für den müßigen Reisenden nützlich sein kann. Im Februar 2012 kündigte die britische Reiseagentur Thomas Cook die Schließung von 200 Hauptfilialen an, und obwohl dabei leider viele Jobs verloren gingen, erfüllt es mich mit Zuversicht, dass die Menschen wieder mehr Kontrolle über ihre eigenen Reiseerlebnisse gewinnen. Heute ist es für jedermann möglich, eigene Reiseabenteuer zu organisieren – mit etwas Recherche und mit neuen Plattformen wie airbnb.com , auf der Menschen auf der ganzen Welt Reisenden ihre Häuser, Gästezimmer oder sogar ihre Sofas zu einem vernünftigen Preis anbieten können – das ist in jeder Hinsicht von Vorteil, denn die Ortskenntnisse Ihres Gastgebers sind unbezahlbar. Es mögen kleine Veränderungen sein, doch sie eröffnen außergewöhnliche Perspektiven.
Meine Reiselust wurde mir von einer unglaublich inspirierenden Frau namens Rita vererbt, die zufällig auch meine Großmutter war; auch heute noch pilgere ich gelegentlich zu dem Ort, an dem sie gelebt hat. Sie verbrachte 30 Jahre in derselben Wohnung in Fishbourne, die sie sich aussuchte, weil man vom Balkon aus einen Blick auf den Hafen hatte. Sie ist vor einigen Jahren gestorben, aber ich komme oft dorthin und schlendere über die Brücken, auf denen wir Puhstöckchen spielten, als ich ein kleiner Junge war. Ihre Asche wurde im Schilf verstreut, und weil ich ihre Gesellschaft immer so genossen habe, habe ich dort jedes Mal ein Gefühl, als käme ich nach Hause. Während des Zweiten Weltkriegs war sie Krankenschwester, und später zog sie mit ihrem Mann John in einen Ort in Südengland, weit weg von seinem Geburtsort in Irland und ihrem in Lancastershire. In Chichester arbeiteten sie beide in einem Krankenhaus, das mittlerweile in Luxuswohnungen umgewandelt wurde.
Sie haben ihr ganzes Leben lang gearbeitet und gespart und planten, sich gemeinsam die Welt anzusehen, wenn sie im Ruhestand wären. Doch als John unverhofft starb, schien dieser Traum ausgeträumt zu sein. Niemand hätte es Rita verdenken können, wenn sie sich in ihrem Kummer vergraben hätte, doch sie entschied sich dazu, für sie beide auf Reisen zu gehen. Sie verbrachte die folgenden 30 Jahre damit, allein durch die Welt zu reisen. Während meiner Kindheit schien sie ständig unterwegs zu kühnen Abenteuern auf der anderen Seite des Globus zu sein, und mein Bruder Gareth und ich liebten die exotischen Süßigkeiten, die sie uns mitbrachte, wenn sie endlich wieder nach Hause kam. Es war ihr gelungen, ihre Trauer in eine neue Leidenschaft für das Unbekannte zu verwandeln, und sie sagte mir oft, ich solle »losgehen und die Welt erleben «, sobald sich
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