Snack Daddys Abenteuerliche Reise
VAINBERG stand auf der Gedenktafel zu lesen. KÖNIG VON ST. PETERSBURG, VERTEIDIGER ISRAELS, FREUND DER BERGJUDEN . Und darunter ein Zitat meines Vaters: MIT ALLEN NÖTIGEN MITTELN .
Der Raucher streckte mir die Hand entgegen. Sofort sah ich die verblassten grünen Tätowierungen auf seinen Fingern, die von vielen langen Aufenthalten in Sowjetgefängnissen erzählten. »Ich bin Mosche«, sagte er. »Habe ich viele Jahre verbracht mit deinem Vater im Knast. War er auch wie ein Fardur für uns Juden da drin. Hat er dich immergeliebt, Mischa. Hat er immer nur von dir geredet. War er dein erster Liebhaber. Und wird dich keiner mehr so lieben wie er.«
Ich seufzte. Ich fühlte mich schwummrig und weinerlich und wie betäubt. Hier in diesem vorsintflutlichen Außenposten des Hebräertums meinem Vater in die Augen sehen zu müssen …
Sieh nur, Papa. Sieh nur, wie dünn ich in den vergangenen paar Wochen geworden bin! Sieh nur, wie ähnlich wir uns jetzt im Profil sehen. Da ist nichts mehr von meiner Mami an mir. Jetzt bin ich ganz wie du, Papa.
Ich wollte mit meinem Finger die Umrisse seines Gesichts nachfahren, aber ein paar ältere Juden fingen mich ab, weil sie mir ebenfalls die Hände schütteln und mir in ihrem gebrochenen Russisch erzählen wollten, was für fröhliche, tiefsinnige Zeiten sie mit meinem Geliebten Herrn Papa erlebt hatten, im Knast und draußen, und wie sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammen daran gearbeitet hatten, »zu verdienen Gelder immer mehr und mehr«.
Dem Rabbi entrang sich ein seltsames Teekesselpfeifen, das Donnergrollen von Nasenschleim, der sich seinen Weg durch einen vom Alter gebeugten Riechkolben bahnte. »Er weint«, erklärte Avram. »Er weint, weil er sich geehrt fühlt, einen so wichtigen Juden hier im Dorf begrüßen zu dürfen. Aber, aber, Großväterchen. Ist ja gut. Bald ist alles vorbei. Nicht weinen.«
»Der Rebbe hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, erklärte mir einer der Freunde meines Vaters. »Wir haben in Kanada einen neuen bestellt. 28 Jahre alt. Frisch wie ein Rettich.«
»Vaaaainberg«, krähte der Rabbi noch einmal und berührte mein Gesicht mit der Hand, einem Klumpen aus Erde und Knoblauch.
»Der arme Mann hat Hitler und Stalin überlebt«, erzählte Avram. »Mit 20 haben die Sevo ihn ins Arbeitslager auf die Kamtschatka geschickt. Sieben seiner acht Söhne sind erschossen worden.«
»Ich dachte, die Sevo wollten die Juden retten«, sagte ich. »Parka Gylle hat mir erzählt –«
»Glaubst du diesem Faschisten etwa?«, sagte Avram. »Nach dem Krieg wollten die Sevo all unsere Männer in den Gulag schicken und unsere Dörfer an sich reißen. Wir hatten die dicksten Kühe und unsere Frauen haben Sommersprossen und ganz pralle Schenkel.«
Nana hatte mit ihren Händen den zerknitterten, muffelnden Körper des Rabbi gepackt und verhörte ihn fröhlich auf Russisch: »Stimmt es, lieber Mann, dass die Bergjuden die ursprünglichen Abkömmlinge des babylonischen Exils sind?«
»Dass – wir – wa?«
»Nun, das besagt die eine Theorie. Gibt es darüber keine schriftlichen Aufzeichnungen, Rabbi?«
»Schri – wi – wa?«
»Seid ihr Juden nicht angeblich das Volk der Schrift?«
»Ju – du – hu?«
»Quälen Sie den Alten nicht«, sagte Avram. »Wir Bergjuden sind nicht für unsere Bildung berühmt. Mit Viehzucht haben wir angefangen, und jetzt sind wir im Großhandel.«
Der Rabbi schniefte wieder, die Verbrecher rauchten ihre Newport Lights auf, die Teenies schwatzten über die schärfsten Jüdinnen der Welt. Ich betrachtete das Profil meines Vaters. Ich betrachtete seine früheren Zellengenossen
(war er dein erster Liebhaber)
, den lieben, verwirrten alten Mann, der sich an meinem Ellenbogen klammerte, die heilige Ziegelmauer vor uns und die letzten Worte, die mein Geliebter Herr Papa den Bergjuden hinterlassen hatte: MIT ALLEN NÖTIGEN MITTELN .
Hatte mein Papa gewusst, dass der Satz von Malcolm X geklaut war? Papas Rassismus war denkwürdig, unanfechtbar, kategorisch, allumfassend, von epischer Kraft. War er vielleicht unabhängig zum selben Schluss gekommen wie der schwarze Führer der
Nation of Islam
? Ich musste daran denken, was mein Vater mir gesagt hatte, als ich nach St. Leninsburg zurückgekehrt war. »Mischa, wenn du es in dieser Welt zu etwas bringen willst, musst du lügen, betrügen und stehlen«, hatte er gesagt. »Und bis du das wirklich intus hast, bis du alles vergessen hast, was sie dir auf dem Zufallscollege
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