Snuff: Roman (German Edition)
kommt zu den beiden rüber und sagt: »Meine Herren.« Nimmt eine Handvoll Papierservietten vom Büffet, gibt sie dem mit der blutigen Nase und sagt: »Lasst mich das regeln.«
Der Kerl zieht den blutigen Rotz hoch und greift sich eine Handvoll Chips. Blut rinnt aus seinen aufgeplatzten, vom Salz geschwollenen Lippen.
Während das Mädchen in den Papieren auf dem Clipboard blättert, tritt Nummer 137 an mich heran. Der aus dem Fernsehen. Mit dem Autogrammhund. Er sagt: »Hier hat wohl jemand nicht genug Muttermilch bekommen...«
Die mit der Stoppuhr streicht die Nummer auf dem Arm des Chipsfressers durch. Und schreibt ihm eine neue drauf.
Der Tätowierte lässt den Arm sinken und belauert die beiden. Reibt die Knöchel seiner Rechten in der Handfläche der Linken.
»Der mit dem Tattoo«, sage ich, »gehört zu einer Sureno-Gang aus Seattle.« Ich sage zu Nummer 137: »Er hat jemanden umgebracht und zwölf Jahre im Gefängnis gesessen. Letztes Jahr wurde er entlassen.«
Nummer 137 drückt den Autogrammhund an seine Brust und sagt: »Du kennst ihn?«
Ich sage: »Sieh dir seine Hand an.«
Auf dem Hautlappen zwischen Daumen und Zeigefinger einer Hand hat der Tätowierte zwei kurze parallele Striche mit drei Pünktchen daneben: das aztekische Zeichen für die Zahl dreizehn – aztekische Zahlenkunde und die Nahuatl-Sprache sind bei den Sureno-Gangs in Südkalifornien sehr beliebt. Im Kreuz, dicht über dem Bund seiner Boxershorts, hat er in schnörkligen Ziffern die Nummer 187 tätowiert: im kalifornischen Strafgesetzbuch der Mordparagraph. Neben dem Nabel hat er einen Grabstein mit zwei Daten, die zwölf Jahre auseinanderliegen: die Zeit, die er im Gefängnis gesessen hat.
Nummer 137 sagt: »Bist du in einer Gang?«
Das hat mir mein Adoptivvater beigebracht.
Es sind noch andere hier. Ich erkläre ihre Tattoos. Der asiatische Typ mit den schwarzen Streifen auf dem Bizeps, der ist ein Mitglied der Jakusa, der japanischen Mafia; jeder schwarze Streifen steht für ein Verbrechen, das er begangen hat. Und das »NCA« auf dem Rücken dieses anderen Asiaten kennzeichnet ihn als Mitglied der Ninja Clan Assassins. Sie stehen herum, warten darauf, dass sie an die Reihe kommen, Männer mit einem kleinen Kruzifix auf der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger. Oben hat es drei kleine fächerförmige Striche, das Pachuco-Kreuz, das Zeichen der lateinamerikanischen Gangs. Andere haben an dieser Stelle drei Punkte in Form eines Dreiecks eintätowiert. Wenn es Mexikaner sind, bedeuten die drei Punkte: » Mi vida loca .« »Mein verrücktes Leben.« Wenn es Asiaten sind, bedeuten die Punkte: » To o can gica .« »Mir ist alles egal.«
Nummer 137 sagt: »Dein Dad war in einer Gang?«
Mein Adoptivvater war Buchhalter in einem erfolgreichen Großkonzern. Er, ich und meine Adoptivmutter lebten in einer Vorstadt, in einem englischen Tudorhaus mit einem riesigen Keller, in dem er an Modelleisenbahnen bastelte. Die anderen Väter waren Anwälte und Chemiker, aber Modelleisenbahnen hatten sie alle. An jedem freien Wochenende stiegen sie in ihr Auto und fuhren zum Recherchieren in die Stadt. Machten Fotos von Gangmitgliedern. Von Gang-Graffiti. Von Prostituierten auf dem Strich. Von Müll und Umweltverschmutzung und obdachlosen Heroinsüchtigen. Zu Hause analysierten sie die Bilder und debattierten heftig darüber und versuchten sich gegenseitig mit den realistischsten, den gewagtesten Szenen städtischen Verfalls zu übertrumpfen, die sie in ihren Kellern im Modelleisenbahnmaßstab nachbauten.
Mein Adoptivvater malte mit einem einzelnen Nerzhaar die Nummer 312 auf den nackten Rücken einer winzigen Gang-Figur. Das war dann ein Mitglied der Vice Lords aus Chicago. Gangster bezeichnen damit ihr Revier – mit einem Tattoo der Vorwahlnummer, normalerweise in Schulterhöhe. Manchmal auch auf Brust oder Bauch. Der den Chipsfresser geschlagen hat, hat die Vorwahlnummer des Großraums Seattle – das dürfte also das Norteno-Revier sein. Kein Wunder, dass er so defensiv ist, würde ich sagen.
Mitglieder der Blood-Gang streichen in allen ihren Tattoos den Buchstaben C durch. Damit niemand auf den Gedanken kommt, sie könnten etwas mit der rivalisierenden Crip-Gang zu tun haben. Wer ein Tattoo hat, in dem das B durchgestrichen ist, gehört zu den Crips.
»Das alles hat dir dein Dad erzählt?«, fragt Nummer 137.
Mein Adoptivdad. Der mit seiner Modelleisenbahn. Er hat meine Adoptivmutter nie betrogen, aber er konnte ganze Tage damit
Weitere Kostenlose Bücher