So berauschend wie die Liebe
Unmittelbar vor dem Gerichtsgebäude hatte er ihn zur Rede gestellt und ihm eiskalt mitgeteilt, dass er ihn für schuldig am Tod seines Bruders hielt, auch wenn das Gericht ihn freigesprochen habe … Er hätte anstelle des Seils genauso gut Antonios Kehle durchschneiden können. Und Damien, der sowieso durch den Tod des besten Freundes völlig am Boden zerstört gewesen war, hatte sich von diesen Vorwürfen nie richtig erholt.
Lucys Informationen zufolge hatte es seitdem keinerlei Kontakt mehr zwischen den Familien gegeben, weshalb es sie nach Damiens Tod wie ein Schock getroffen hatte, festzustellen, dass ausgerechnet die Zanelli Bank dritter stiller Teilhaber im Unternehmen ihrer Familie war. Lorenzo Zanelli war wirklich der Letzte, den sie hätte um einen Gefallen bitten wollen, aber ihr blieb keine Wahl. Also schluckte Lucy ihren Stolz hinunter und schrieb ihm, wobei sie die enge Verbundenheit ihrer Familie mit seinem Bruder Antonio offen ansprach. Sie erwähnte, dass sie für ein oder zwei Tage in Verona sein würde, und bat ihn fast flehentlich, ihr wenige Minuten seiner Zeit zu opfern. Und tatsächlich wurde ihr ein Termin gewährt.
Der Fortbestand von Steadman Industrial Plastics als Familienunternehmen hing allein davon ab, ob es Lucy gelang, Lorenzo Zanelli von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Zwar war außer ihr gar keine Familie mehr übrig, aber in dem kleinen Städtchen Dessington in Norfolk, wo sie geboren und aufgewachsen war, galt Steadman’s als Hauptarbeitgeber, und obwohl Lucy dort seit ihrem Studium nicht mehr lebte, kam sie immer wieder mal zu Besuch und fühlte sich für die Einwohner in gewisser Hinsicht verantwortlich. Was man von Richard Johnson nicht sagen konnte.
Deshalb setzte Lucy ihre ganzen Hoffnungen auf Lorenzo Zanelli.
„Miss Steadman?“
Der spöttische Klang seiner Stimme brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Lucy zwang sich, Lorenzo Zanellis arrogantem Blick standzuhalten.
„Sie sind wirklich ein hartnäckiges kleines Ding, das muss ich Ihnen lassen“, sagte er fast anerkennend, bevor er sich an seine Sekretärin wandte und sie, soweit Lucy verstand, auf Italienisch anwies, nach zehn Minuten durchzurufen. „Kommen Sie, Miss Steadman“, sagte er dann über die Schulter. „Das wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.“
Lucy verkniff sich die Bemerkung, dass die Sache bereits ziemlich viel ihrer Zeit gekostet hatte. Zögernd blickte sie ihm nach, als er ohne ein weiteres Wort in seinem Büro verschwand und die Tür hinter ihm zufiel. Lorenzo Zanelli mochte ja umwerfend attraktiv sein, aber er war ganz gewiss kein Gentleman!
„Sie sollten jetzt besser hineingehen“, riet die Sekretärin. „Signor Zanelli mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.“
In Anbetracht dessen, wie lange er sie hatte warten lassen – der Termin war für zwei Uhr angesetzt und inzwischen war es schon nach drei –, empfand Lucy das als reichlich unverschämt. Ärgerlich fasste sie sich ein Herz, atmete tief durch und folgte Lorenzo Zanelli in sein Büro.
Er stand hinter einem riesigen antiken Schreibtisch und telefonierte in rasantem Italienisch, um bei Lucys Eintreten das Gespräch sofort zu beenden.
„Setzen Sie sich.“ Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und nahm selbst ohne abzuwarten in einem schweren Ledersessel dahinter Platz. „Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und beeilen Sie sich. Meine Zeit ist kostbar.“
Er war wirklich der unhöflichste Mensch, der ihr je begegnet war. Lucys grüne Augen funkelten zornig, während ihre spontane Abneigung gegen Lorenzo Zanelli mit jeder Minute wuchs. „Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie Antonios Bruder sind!“, sagte sie, ohne zu überlegen.
Antonio war ebenso gut aussehend wie liebenswert gewesen, der beste Freund ihres Bruders während des Studiums. Lucy war vierzehn gewesen, als Damien den Italiener während der Sommersemesterferien zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte. Natürlich hatte sie sich sofort unsterblich in den schönen jungen Mann verliebt – ja, sie war so vernarrt gewesen, dass sie sogar in der Schule einen Italienischkurs belegt hatte. Antonio, zwar nur vier Jahre älter als sie, aber schon richtig erwachsen, hatte ihre Schwärmerei nicht ausgenutzt, sondern Lucy einfach wie ein echter Freund behandelt, sodass sie sich gar nicht töricht vorgekommen war. Ja, er war wirklich ein einfühlsamer Mensch gewesen, ganz anders als der unnahbare Bankier, der sie jetzt über den großen
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