So berauschend wie die Liebe
ähnlich gearteten Fällen das Durchschneiden des Seils die korrekte Handlungsweise war, weil es dem Vorkletterer ermöglichte, sich zu retten und für seinen Partner Hilfe zu holen. Zu diesem Ergebnis war auch der Richter beim Verfahren hinsichtlich Antonios Todes gelangt. Damien Steadman war von jeder Schuld freigesprochen worden, was Lorenzo maßlos erzürnt hatte. Er hatte den gesamten Prozess vor Ort verfolgt, und als Damien dann nach der Urteilsverkündung so taktlos war, ihm sein Mitgefühl zum Tod seines Bruders auszusprechen, hatte Lorenzo die Beherrschung verloren. Er hatte dem jungen Mann unmissverständlich gesagt, dass er ihn für schuldig an Antonios Tod hielt und ihn zur Hölle gewünscht.
Jetzt, mit dem Abstand von fünf Jahren, waren Schmerz und Zorn gedämpft, und er konnte die Tragödie aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Dennoch ließ ihm die Sache keine Ruhe. Lorenzo bezweifelte, dass er das Seil, das ihn mit einem Freund verband, durchtrennt hätte – aber er war auch noch nie in einer derartigen Lage gewesen, und letztendlich hatte Damien Steadman tatsächlich die Rettungsmannschaft alarmiert.
Dieser Fakt irritierte ihn – ebenso wie die Erinnerung an den erregenden Kuss mit Lucy Steadman. Wie, zum Teufel, war ihm jetzt dieser Gedanke in den Kopf gekommen? Sie war viel zu jung für ihn, ganz zu schweigen von all ihren anderen Unzulänglichkeiten.
Seine Entscheidung, die Anteile an Steadman’s zu verkaufen, war richtig. Damit würde endlich die letzte Verbindung zur Familie Steadman gekappt. Seiner Mutter würde er es irgendwie erklären und Lucy Steadman glücklicherweise nie wiedersehen.
Nach einer unruhigen Nacht in einem fremden Hotelbett, in der sich ein großer dunkelhaariger Mann, der Lorenzo Zanelli verdächtig ähnlich sah, immer wieder in ihre höchst erotischen Träume drängte, gönnte Lucy sich den Vormittag, um wenigstens einen kleinen Eindruck von den wundervollen Bauten Veronas zu bekommen. So war sie zwar etwas erschöpft, aber restlos begeistert, als sie schließlich nachmittags vor einem weiteren prächtigen Gebäude vorfuhr, dem luxuriösesten Mietshaus in der Stadt, wie der Taxifahrer ihr versichert hatte.
Vorsichtig legte sie die lederne Mappe, die das Porträt enthielt, auf die Empfangstheke im Foyer und stellte, während der Portier ihren Ausweis kontrollierte, staunend fest, dass der Taxifahrer nicht übertrieben hatte.
„Die Contessa della Scala ist zu Hause, signorina . Aber ich muss erst anrufen und Sie ankündigen.“ Er gab ihr den Pass zurück, und sie blickte sich erneut bewundernd in dem eleganten Foyer um, während sie das Telefonat abwartete.
In diesem Moment glitten die Türen des Aufzugs auf, und ein Mann trat heraus, bei dessen Anblick Lucy schlagartig Schmetterlinge im Bauch verspürte.
Er hingegen sah sie grimmig an.
„Sie!“ Mit wenigen Schritten stand Lorenzo Zanelli neben ihr und packte sie am Arm. „Was fällt Ihnen ein, mir zu folgen?“
„Das ist doch lächerlich!“ Vergeblich versuchte sie, sich seinem Griff zu entziehen. „Lieber Himmel, lassen Sie mich los!“
„Wie sind Sie hier hereingekommen? Das Gebäude ist doch gesichert.“
„Durch die Tür. Was glauben Sie denn?“
„Und auf diesem Weg werden Sie auch sofort wieder verschwinden, während ich ein Wörtchen mit dem inkompetenten Portier rede, der Ihnen den Zutritt gestattet hat.“
Wie auf ein Stichwort, legte der Portier den Telefonhörer auf und wandte sich lächelnd Lucy zu. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, überschüttete Lorenzo Zanelli den armen Mann mit einer wütenden italienischen Schimpftirade.
Trotz ihres Sprachkurses verstand Lucy bei dem rasanten Tempo kaum ein Wort. Also beschränkte sie sich darauf, interessiert zu beobachten, wie der Portier, als er schließlich zu Wort kam, in ruhigem Ton antwortete … und verkniff sich ein Lachen, als Lorenzo sie dann sichtlich betreten und verlegen wieder losließ.
Lorenzo blickte in Lucys Gesicht, sah das belustigte Aufblitzen in ihren grünen Augen und kam sich wie ein Trottel vor. Wie war er nur auf den Gedanken gekommen, sie wäre ihm gefolgt? Das entsprang anscheinend dem gleichen irrationalen Zwang, der ihn tags zuvor veranlasst hatte, sie zu küssen. Ein völlig untypisches Verhalten für ihn, dem er sofort Einhalt gebieten musste. Lorenzo Zanelli hatte sich normalerweise stets im Griff.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Miss Steadman“, sagte er, ohne zu zögern. „Es tut mir leid.
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