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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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nahm ein Paar Socken aus meiner Reisetasche und schlich ins Wohnzimmer. Die halb verkohlten Holzscheite im Kamin waren noch warm, also legte ich einen großen Klotz nach, der aussah, als würde er Feuer fangen. Ich war selbst nie sonderlich talentiert gewesen, hatte aber meinem Vater häufig dabei zugesehen, wie er den Kamin anzündete. In unserem Haus gab es damals keine Zentralheizung, und im Winter hatte er immer erst ein Feuer angezündet, wenn man die Atemwölkchen vor meinem Mund sehen konnte. Elender Fiesling. Gemeiner, elender Fiesling.
    Ich betrat die offene Küche und setzte den Wasserkessel auf.
    Erstaunlicherweise hatte ich keine Kopfschmerzen, sondern fühlte mich ziemlich gut. Mehr noch. Noch immer war ich von diesem Hochgefühl vom Vorabend erfüllt. Ich sah aus dem Fenster – Nebel hing über dem Tal, der sich jedoch allmählich aufzulösen begann. Ich fühlte mich wie die Landschaft da draußen; so, als lichte sich eine dichte Wolke über mir. Es war ein herrlicher Anblick. Ich nippte an meinem Kaffee und sah aus dem Fenster, von einer seltsamen Ruhe und einem Gefühl des Friedens erfüllt.
    In diesem Moment sah ich Amy auf den Hof treten. Wieder erhaschte ich einen Blick auf ihr Gesicht, als sie sich unbeobachtet glaubte – auf ihre hängenden Mundwinkel und die tiefen Furchen auf ihrer Stirn. Ihre Bewegungen waren langsam, aber immer noch anmutig, auch wenn nichts an ihrer Körperhaltung an ihre einstige Selbstsicherheit erinnerte. Ich hatte sie am Vorabend gefragt, wie sie damit zurechtkam, dass Marcus nach wie vor der Organisation angehörte. Es sei eben immer so gewesen, hatte sie erwidert. Sie sehe ihn nicht allzu häufig, außerdem sei sie so damit beschäftigt, ihre Kinder großzuziehen, dass sie so gut wie nie einen Gedanken an ihn verschwende. Trotzdem. Mir war aufgefallen, wie sehr sie es genossen hatte, sich zu betrinken. Aber natürlich hatte sie völlig recht: Sie hatte die letzten zwanzig Jahre damit zugebracht, sechs Kinder großzuziehen und hatte in einer Hippie-Kommune gelebt, mit deren Gründer sie verheiratet gewesen war. In Wahrheit war sie vom Regen in die Traufe gekommen. Wenn man damit aufgewachsen ist, dass einem ständig jemand sagt, was man zu tun hat, kann man irgendwann nicht anders. Ihr Ehemann, von dem sie anfangs geglaubt hatte, er sei ein guter Fang, hatte sich als ziemlicher Weiberheld entpuppt. Irgendwann hatte sie endlich die Kraft aufgebracht, ihn zu verlassen. Allerdings erst vor nicht allzu langer Zeit. Deshalb hatte sie gemeint, mir nach all den Jahren wieder zu begegnen, sei ein Zeichen, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich um ihre »Leute« zu kümmern. Genau da lag das Problem mit uns – wir mussten in allem und jedem eine tiefere Bedeutung sehen. Von Kindesbeinen an hatte man uns eingetrichtert, Zeichen zu erkennen, nach einem höheren Ziel Ausschau zu halten, und wenn man erst einmal darauf programmiert war, konnte man sich nicht wieder davon befreien.
    »Hey, Amy!«, sagte ich und öffnete die Tür.
    Augenblicklich erhellten sich ihre Züge. Sie kam die Treppe herauf und schwenkte einen leeren Kohleneimer. »Hast du gut geschlafen?«, fragte sie.
    Ich umarmte sie. »Danke für all das hier.« Keine Ahnung, wieso ich das sagte und ob ich es überhaupt so meinte, aber sie sah aus, als könnte sie eine Umarmung dringend gebrauchen, schließlich kümmerte sie sich ständig nur um das Wohl anderer.
    »Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragte ich.
    »Die anderen warten darauf, dass ich die Kohlen bringe …«
    »Ach, vergiss doch die anderen. Komm, trink einen Kaffee mit mir.«
    »Wieso eigentlich nicht.« Sie umarmte mich und sah mir forschend in die Augen. »Caroline, was ist mit dir passiert? In Schottland, meine ich. Wie waren deine Verwandten?«
    Wie mühelos mich meine Eltern aus ihrem Leben verbannt hatten.
    »Amy, bitte«, sagte ich und beendete damit das Gespräch.
    »Schon gut. Keine Fragen!« Sie trat ein.
    Ein paar Stunden später kam ich auf die Idee, einen Spaziergang zu den Bedruthan Steps zu machen. Tilly musste dringend an die frische Luft, und ich wollte eine Weile allein sein. Joe meinte, er bleibe im Haus und sehe sich das Fußballspiel an.
    Ehe ich michs versah, war es beschlossene Sache, dass die anderen mitkommen würden. Das war typisch für die Organisation – alles musste ständig in der Gruppe unternommen werden. Für mich hingegen ist es unerträglich, mit einer ganzen Horde unterwegs zu sein. Dieses ewige Herumstehen und

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