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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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kehrte die Erinnerung an sämtliche Details des Baums zurück. Stellen Sie sich das nur vor – all die Jahre hatte ich die Erinnerung bewahrt. Großer Gott, Erinnerungen, die man rahmt und sich an die Wand hängt, als wären sie einzigartig und wunderschön.
    Ich starrte mich in dem halb blinden Spiegel an. Ich sah gut aus. Lebendig. Meine Augen strahlten.
    »Hallo, du!«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, als hätte ich mich seit langer, langer Zeit nicht mehr angesehen. Ich sah Caroline Stern, das fröhliche Mädchen mit den rosigen Wangen, das ich einst gewesen war. Gelächter und Musik wehten die Treppe herauf – man hätte denken können, es handele sich um eine ganz normale Party. Ich zog meine Jeans herunter, setzte mich auf die Toilette und starrte auf meine Beine. Was hatten diese Beine in den letzten fünfundzwanzig Jahren getan? Dann betrachtete ich meine Hände – auch sie gehörten nicht länger einer Dreizehnjährigen. Meine Haut besaß nicht mehr die Spannkraft von damals. In diesem Moment kamen mir die Hände meiner Mutter in den Sinn – rau und rissig von all dem Schrubben. Meine Mutter. Mein Vater war tot. Ich hatte sie aus meinen Gedanken verbannt, alle beide.
    Ich starrte auf den grünen Linoleumfußboden zwischen meinen Knien, während meine Gedanken zu Mr   Steinberg und seinem Blick zurückkehrten, diesem bewundernden Funkeln in seinen Augen. Erneut durchströmte mich dieses Hochgefühl. Sein Blick hatte mir deutlich verraten, dass ich noch immer etwas ganz Besonderes für ihn war.
    Zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass ich zu sabbern begonnen hatte, als wäre ich geisteskrank oder senil oder so etwas. Ein Speichelfaden war auf meinem Bein gelandet. Höchste Zeit, zu gehen.
    Ich zog meine Jeans hoch, wusch mir die Hände, schloss die Badezimmertür auf und trat hinaus, wobei ich um ein Haar mit Mr   Steinberg zusammengestoßen wäre, der mich auffing und stützte.
    »Hey!«, sagte er, ohne mich loszulassen. »Caroline!«
    Ich konzentrierte mich ganz fest darauf, nüchtern zu wirken. Er hielt inne, als hätte er vergessen, was er sagen wollte. Seine Hände fühlten sich warm auf meinen Armen an. »Es ist so schön, dich zu sehen.«
    Die Eindringlichkeit in seiner Stimme erstaunte mich. Er klang so, als hätte er lange darauf gewartet, mich endlich wiederzusehen, und in seinen Augen lag ein Ausdruck nostalgischen Wehmuts.
    »Geht mir auch so«, erwiderte ich, konnte seinem Blick jedoch nicht lange standhalten. Ich hatte mich immer noch nicht von dem Schock erholt, dass er Megan geheiratet hatte, und fühlte mich von beiden verraten. Ich ging nach unten, holte Joe und machte mich auf den Weg in unsere Hütte.
    »Sieh dir nur die Sterne an!«, sagte Joe, als wir durch die Finsternis torkelten. Ich sah hoch und kippte prompt um. Wie um alles in der Welt konnte ich mit einem Mal so betrunken sein?
    »Verfluchtes Landleben!«, fluchte ich halb stöhnend, halb lachend und rieb mir mein schmerzendes Hinterteil. »Wieso ist es hier so stockdunkel?« Innerhalb von höchstens zwei Minuten hatte ich mich vom rasend witzigen Charmebolzen in eine übellaunige, lallende Betrunkene verwandelt.
    »Genau. Was wir brauchen, ist eine hübsche grelle Straßenlampe!«, konterte Joe und zog mich auf die Füße.
    »Na ja, diese Leute vom Land sind doch so offen und direkt, dass man annehmen sollte, sie wollen einem jederzeit ins Gesicht sehen.«
    »Genau, völlig richtig, Lorrie.« Joe versuchte eindeutig, mich zum Narren zu halten. »Du meinst, so wie du, wenn du mit dem Hund Gassi gehst, und jemand auf dich zukommt und ›Guten Morgen‹ oder ›Hallo‹ zu dir sagt?«
    »Genau das meine ich«, maulte ich. Ich musste meine Verärgerung an irgendjemandem auslassen. »Nach dem Motto ›Ooh, wir sind ja vom Land und deshalb so was von freundlich.‹ Hör bloß auf, du inzestuöser Mistkerl!«
    Wieder stolperte ich über einen Stein, doch Joe fing mich auf.
    »Schön aufpassen, Lorrie!«
    Aber ich hatte mich so richtig in Fahrt geredet. »Ich meine, was war mit dem Kerl an der Tankstelle? Ich wusste nicht mal, dass es überhaupt noch Tankwarts gibt. Hast du das mitgekriegt? ›Wie war denn der Verkehr auf der A  39? Machen Sie Urlaub hier? Netter Hund. Was für eine Rasse ist das? Ich hoffe nur, das Wetter hält. Besuchen Sie Verwandte hier?‹ Hey … gib … den … Sprit … in … meinen … Tank … und … halt … die … Klappe!«
    In diesem Moment rutschte ich erneut aus und schlitterte ein gutes

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