So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
in der Nähe des Muschelfelsen ankläffte. Ich hatte vergessen, den Citronella-Behälter mitzubringen, und sie war prompt wieder in ihr gewohntes Verhaltensmuster verfallen.
Mir blieb keine andere Wahl, als zurückzugehen und sie an die Leine zu nehmen. Noch immer von diesem Hochgefühl erfüllt, blieb ich einen Moment lang stehen und blickte aufs Meer hinaus. Schließlich zerrte ich sie über ein paar Felsen in Richtung Treppe, als sie ein hysterisches Quieken von sich gab. Sie war auf einen Seeigel getreten und machte ein Riesentheater darum. Und als wäre das nicht schon genug, öffnete der tiefschwarze Himmel in diesem Moment seine Schleusen und ließ alles herab, was er zu bieten hatte.
Tilly streckte mir flehentlich ihre verletzte Pfote hin und blickte mich aus ihren dunkelbraunen Augen um Hilfe heischend an. Ich untersuchte die Pfote und entdeckte drei braune Igelstacheln in der ersten Zehe. Ich versuchte, sie herauszuziehen, doch meine Finger waren zu klamm und zu feucht. Also hob ich sie hoch und trug sie zu einem kleinen Felsvorsprung, um mich daruntersetzen zu können. Wie ein Baby hielt ich sie in den Armen. Ich mochte es, wenn sie so war – hilfebedürftig und gehorsam. Vorsichtig probierte ich, die Stacheln herauszuziehen, aber sie strampelte so unablässig, dass ich sie nicht festhalten konnte. Wie es aussah, würde ich die Zähne zu Hilfe nehmen müssen.
»Kann ich helfen?«
Ich sah auf. Mr Steinberg stand am Eingang der kleinen Höhle und rieb die Hände aneinander, um sie zu wärmen.
»Danke!«, sagte ich. Er war nass bis auf die Knochen. Hinter ihm rauschte der Regen wie ein Wasserfall herab. Er nahm seine Brille ab und säuberte sie mit dem Zipfel seines Pullovers. Ohne sie sah er ganz anders aus, beinahe nackt. Ich ermahnte mich, ihn nicht anzustarren, zugleich war mir klar, dass ich es ungeniert tun konnte, weil er mich ohnehin nicht sehen konnte.
»Sie ist auf einen Seeigel getreten. Vielleicht könnten Sie sie festhalten, während ich die Stacheln herausziehe.«
Mr Steinberg kniete sich vor Tilly und mich und versuchte, sie festzuhalten, während ich weiter operierte. Nur wenige Zentimeter trennten uns voneinander. Ich spürte sein Knie an meinem Bein. Unsere Gesichter berührten sich beinahe. Ich war ihm bereits mehrere Male so nahe gewesen, wenn er meine Hausarbeiten las, und hatte einen Blick auf sein Gesicht hinter der Brille erhascht – ich hatte diese Momente immer sehr genossen, ihn aus der Nähe betrachten zu können, mit seinen Augen, die auf einmal viel größer wirkten, und den erstaunlich langen Wimpern.
Klitschnasse schwarze Strähnen klebten ihm im Gesicht, aus denen es auf Tilly herabtropfte. Schließlich gelang es mir, die Stacheln zu entfernen. Keiner von uns rührte sich – nun, da Tilly nicht mehr zwischen uns war, fühlte sich die Nähe unangemessen intim an. Wir sahen zu, wie sie unter dem Vorsprung hinaushumpelte, ehe irgendein Geruch nach Fisch ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und sie ihr Leiden augenblicklich vergessen ließ.
Draußen peitschte der Regen beinahe horizontal über den Strand, während sich der Himmel zu einer von schwarzen Streifen durchsetzten Wolkenmasse zusammengezogen hatte.
»Rück mal beiseite!«, sagte er und drehte sich halb um die eigene Achse, um sich neben mir auf den Felsbrocken zu setzen. »Ich schätze, wir sollten erst mal eine Weile hierbleiben.«
»Okay, Caveman!«, sagte ich und spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.
Ich hätte einiges darum gegeben, die Welt für einen Moment anzuhalten und auszusteigen; einfach nur mit Mr Steinberg in einer Höhle zu sitzen und dem Regen zuzusehen. Schöner konnte es nicht werden. Doch dann durchbrach ich den Zauber des Augenblicks.
»Mr Steinberg?«
»Nate, bitte.«
»Ich lasse zumindest das Mister weg.«
Er lächelte.
»Steinberg?«
»Ja, Stern?«
»Ich muss Sie etwas fragen.«
»Raus damit!«
»Erinnern Sie sich an den Bauarbeiter, diesen Sikh, der mich belästigt hat?«
»Ja«, antwortete er, als überraschte ihn meine Frage nicht im Mindesten.
»Wieso haben Sie ihr … damals nicht gesagt … dass der Kerl ein mieser Drecksack war?«
Er starrte hinaus auf den Regen. »Ich dachte, wir dürfen ›sie‹ nicht erwähnen?«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
»Was denn, Caroline? Was hätte ich ihr sagen sollen? Meiner Freundin gefiel nicht, wie er sie angesehen hat?«
»Sie hätten wenigstens irgendetwas
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